Der graue Himmel dominiert auch dieses Wochenende, mal mit, mal ohne Regen und Nebel.
‚Forschen, lesen, sinnieren – die Spaziergänge eines Wintertags‘, so schrieb ich es gestern einem Freund.
Hinzu kam noch eine Hörpost einer Freundin dazu. Wir sprechen seit 2020 zueinander über das, was uns gerade bewegt, worüber wir forschen. Manchmal treffen sich die zu beackernden Flächen, mal folgt jede ihrem, aber immer ist es inspirierend! Zurzeit ist unser Thema ‚Mythologien‘ – wahrlich ein weites Feld!
‚Winterzeit ist auch Märchenzeit‘, schrieb ich vor vielen Jahren. Märchen und Mythologien, Geschichten, die einst und vielleicht auch noch heute hier und da am Feuer erzählt wurden und werden.
Cambra Skadé schrieb das Buch ‚Geschichtenklang‘ und plädiert – wie auch ich und andere – dafür, uns unsere Geschichten zu erzählen, neue Mythologien zu weben, um sie am Feuer zu teilen und die Jüngeren zu inspirieren. Und wie ich gestern erneut darüber sinniere, geht mir durch den Kopf, dass meine Novelle ‚Die kleine blaue Frau träumt Meer‘ solch eine neue, moderne Mythologie ist – eine Geschichte über eine Initiation, über einen Weg.
In unserer aufgeklärten Welt kann ich natürlich mit so einem Buch keinen Blumenstrauß gewinnen und nur wenige hinter dem Ofen hervorlocken und schon gar nicht einen Verlag dafür gewinnen, was ich aber eh schon längst nicht mehr will. Wichtig ist, dass ich die Geschichte geschrieben habe.
Nachdem ich der Freundin gelauscht hatte, ihren Gedanken und Fragen noch nachhing, fiel mir ein Buch von Joseph Campbell – ‚Die Kraft der Mythen‘ ein, das schon sehr lange in meinem Bücherregal steht, ohne es je zuende gelesen zu haben. Gestern nahm ich es wieder einmal heraus, übersprang die lange Einleitung und las das erste Kapitel noch einmal.
Gerne hätte ich der Freundin ganze Passagen vorgelesen, da sie so passend zu unserem Austausch sind, stattdessen mag ich hier einige Passagen unkommentiert mit euch teilen. Die Freundin liest ja mit: huhu, ich winke dir zu!
Joseph Cambell im Austausch mit Bill Moyers (Journalist)
C: Eines unserer Probleme heutzutage ist, dass wir mit der Literatur des Geistes nicht vertraut sind. Wir interessieren uns für die Nachrichten des Tages und die Probleme der Stunde. Früher einmal war die Universität gewissermaßen ein hermetisch abgeriegelter Bereich, in dem die Tagesnachrichten einem nicht in die Quere kamen bei seiner Aufmerksamkeit auf das innere Leben und auf das herrliche Menschenerbe, das wir in unserer großen Überlieferung haben – Platon, Konfuzius, Buddha, Goethe und andere, die von den ewigen Werten sprechen, bei denen es um die Sammlung unseres Lebens in der Mitte geht. Wenn man älter wird und für die täglichen Dinge alle gesorgt ist und man sich dem inneren Leben zuwendet – tja, wenn man dann nicht weiß, wo es ist oder was es ist, wird es einem leid tun.
C: Griechisch und Latein und biblische Geschichten gehörten früher zur Allgemeinbildung. Als sie fallengelassen wurden, ging eine ganze Tradition abendländischen mythologischen Wissens verloren. Früher waren diese Geschichten den Menschen gegenwärtig. Wenn eine Geschichte einem gegenwärtig ist, dann erkennt man ihre Relevanz für etwas, was einem im eigenen Leben passiert. Man kann das, was einem widerfährt, in Perspektive sehen. Mit dem Verschwinden all dessen haben wir wirklich etwas verloren …
C: Lesen Sie Mythen. Sie lehren einen, dass man sich nach innen wenden kann, und man fängt an, die Botschaft der Symbole zu verstehen. Lesen Sie die Mythen anderer Völker, nicht die Ihrer eigenen Religion, weil man dazu neigt, die Aussagen der eigenen Religion als Tatsachen aufzufassen – aber wenn man die anderen liest, fängt man an die Botschaften zu verstehen …
Es fehlen in unserer modernen Welt aber nicht nur die Vermittlung der Mythologien in den Schulen, sondern auch die Rituale, ganz besonders die Initiation der jungen Menschen in eine Gemeinschaft, in den eigenen Platz in der Welt. Dazu sagt Cambell:
C: Der Mensch sollte nicht im Dienst der Gesellschaft stehen, die Gesellschaft sollte im Dienst des Menschen stehen. Wenn der Mensch im Dienst der Gesellschaft steht, bekommt man einen Monsterstaat, und das ist es, was die Welt just in diesem Augenblick bedroht.
M: Was bekommt man, wenn eine Gesellschaft keine wirkungsvolle Mythologie mehr besitzt?
C: Genau den Zustand, den wir haben. Wenn man herausfinden will, was es heißt eine Gesellschaft ohne Rituale zu haben, lese man die New York Times.
M: Und man findet?
C: Die Nachrichten des Tages, darunter von zerstörerischen und gewalttätigen Handlungen junger Menschen, die nicht wissen, wie man sich in einer zivilisierten Gesellschaft aufführt.
M: Die Gesellschaft gibt ihnen keine Rituale an die Hand, durch die sie Mitglieder des Stammes, der Gemeinschaft werden. Alle Kinder müssen zweimal geboren werden, damit sie lernen, sich in der heutigen Welt vernünftig zu bewegen und die Kindheit hinter sich zu lassen …
M: Mythen sind Geschichten unserer ewigen Suche nach Wahrheit, Sinn, nach Bedeutung. Wir alle müssen unsere Geschichten erzählen und unsere Geschichte verstehen. Wir alle müssen den Tod verstehen und mit dem Tod fertig werden, und wir alle brauchen bei unseren Übergängen von der Geburt ins Leben und dann in den Tod Hilfe. Damit das Leben etwas bedeutet, müssen wir das Ewige berühren, das Geheimnisvolle verstehen, herausfinden, wer wir sind.
C: Die Leute sagen, dass wir alle nach einem Sinn des Lebens suchen. Ich glaube nicht, dass es das ist, was wir wirklich suchen. Ich glaube, was wir suchen, ist eine Erfahrung des Lebendigseins … Wir sind so sehr damit beschäftigt, alles mögliche zu tun, um äußere Werte zu erreichen, dass wir darüber den inneren Wert vergessen, die Lust, lebendig zu sein, um die es eigentlich allein geht.
C: Mythen sind Schlüssel zu den geistigen Entwicklungsmöglichkeiten des menschlichen Lebens.
Und wieder einmal freue ich mich über und auf meine ‚Arbeit‘ mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen, auf unsere Geschichten am Feuer und die Rituale. Manche ‚meiner‘ Jugendlichen sind jetzt schon junge Erwachsene und kommen doch immer wieder. Weil sie sich genährt fühlen, weil sie sich besser kennen lernen durften und weil die Eine und der Andere dadurch einen Platz in unsere Gemeinschaft einnehmen konnte. Das nächste Mal treffen wir uns in der Woche vor Ostern.
Und wie herrlich es ist, nun Rentnerin zu sein! Die Kinder groß und selbständig zu wissen, die Enkelkinder nun auch schon auf dem Weg zu ihrem ersten großen Übergang sind, habe ich nun endlich die Zeit mich den vielen Büchern intensiv zu widmen, die ich einst gekauft, angelesen habe, aber nie wirklich den Raum hatte in sie tief einzutauchen.
Joseph Campbell -> https://de.wikipedia.org/wiki/Joseph_Campbell
Bill Moyers -> https://de.wikipedia.org/wiki/Bill_Moyers
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