Geplant war Ewigkeit – Geschichten vom räudigen Leben

Dem Leben und den Menschen auf’s Maul geschaut – eine Rezension

Geschichten von Andreas Glumm lesen heißt, Jemanden zu lesen,

der mit großen Notizbuchaugen die Welt und seine Bewohner begeistert betrachtet, zuhört und seinen Spaß hat“

S. 359

sagt „Die Gräfin“ oder sagt Glumm, dass es die Gräfin gesagt hat, wer weiß das schon so genau.

Schon lange paaren sich bei mir Erinnerungen, Spaß und Nachdenklichkeit, wenn ich Glumm lese. Zunächst waren es die Geschichten auf seinem Blog 500Beine, später dann auf seinem Blog Glumm – Locker machen für die Hölle https://glumm.wordpress.com/. Jetzt endlich sind einige Geschichten in einem Buch gebündelt – das wurde aber auch Zeit, möchte ich augenzwinkernd sagen.

Glumm hat eine spezielle Art Menschen und Situationen zu beschreiben: ehrlich und schnörkellos beschreibt der Autor, wie er was und wen wahrgenommen hat. Wie und was er selbst gefühlt hat, als zum Beispiel erst die Mutter, dann der Vater gestorben sind, als er dem Tod mal eben von der Schippe gesprungen ist oder die Heroinsucht ihn fest im Griff hatte. Das muss man sich ja erst einmal trauen!

Oliver Driesen schreibt in dem Vorwort zum Buch:

Was liest man da also? Wenn man wie ich schon etwa ein Jahrzehnt dabei ist, dann hat man sich unrettbar in einer Welt festgelesen, die anfangs fremd und doch irgendwann erschreckend vertraut erscheint. In ein runtergerocktes Kleinstadt-Universum voller Typen, die Heinrich Zille in einem Berliner Kiez des Jahres 1900 porträtiert oder vielleicht noch Kurt Tucholsky ebendort 1930 belauscht hätte.

Die Lesenden lernen auch die Frau an Glumms Seite kennen, „Die Gräfin“, wie er sie nennt; mit bürgerlichem Namen „Susanne Eggert“. Die Zeichnung auf dem Buchcover stammt aus ihrer Feder, weitere Zeichnungen finden sich im Buch.

Glumm schaut der Gräfin oft auf den Mund, immer wieder streut er Zitate von ihr in seine Geschichten.

Beim Lesen nehme ich oft ein leichtes Augenzwinkern wahr, an manchen Stellen muss ich lauthals lachen, an anderen wächst ein Kloß im Hals. Das nackte Leben ist eben nicht nur locker und flockig und schon gar nicht, wenn Einer Glumm heißt, ein Suchender geblieben ist und von sich selbst schreibt:

Ich bin Ende fünfzig, aber im Herzen immer noch zehn. Da fehlen allerhand Jahre. Wo sind die alle hin? Wer hat die mitgenommen? Hat die jemand abgeholt und ins eigene Leben eingebaut? Ob derjenige damit durchkommt? Ach soll er doch damit machen, was er will.“

S. 358

– oder –

Ich studiere mein Leben lang Gesichter. Ich bin ein ewiger Gesichtsstudent. Das Gesicht, mit dem man draußen in der Gesellschaft herumläuft und altert, ist ein anderes als das, welches man in sich trägt, das bleibt länger jung. Das hält bis zuletzt.

S. 356-357

Es ist die Mischung, die das Buch von Glumm lesenswert macht. Vielleicht nicht für Jede und Jeden, denn Vorsicht, hier geht es nicht um die schöne, heile Welt, hier geht es um Leben pur, um die Straße, das Kneipenleben, kleine Abenteuer und coole Aktionen, die vielleicht nicht für Jede und Jeden so cool sind. Hier geht es darum, dass Einer dem Leben und den Menschen auf’s Maul geschaut hat und auch um die Liebe, die Liebe zu diesem Leben, mit all seinen Widersprüchen, all seinen Absurditäten, all seinen Höhen und Tiefen.

Für mich als „Bahndamm-Kellerkind“ ist Vieles vertraut und auch der eine und andere Kumpel ist mir nicht fremd. Nie 1:1, aber so ungefähr. Ich denke an meine eigenen wilden Jahre, die durchgemachten Nächte, die Räusche, den Spaß, der manchmal ein jähes Ende fand, denen ein verkaterter Morgen folgte. Glumm erinnert mich an einige meiner Freunde, von denen manche nicht mehr leben und auch an meinen besten Freund, an seine jungen Jahre und seinen Weg. Und genau diesem werde ich in den nächsten Tagen das Buch in die Hand drücken, weil ich weiß, dass es ihm gefallen, auch er seinen Spaß, seinen Kloß im Hals haben, und sich erinnern wird.

Es ist nie selbig, es ist immer ein kleines bisschen anders und dann eben doch nicht.


Eine weitere Rezension:

Vom Zauber, Glumm zu lektorieren


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Gegen acht im Park

Eine Rezension

Wer mir schon länger folgt, die/der weiß, dass mir Rezensionen nicht wirklich liegen, wenigstens nicht im klassischen Sinne. Darum kann es immer nur ein Versuch sein, wenn ich ein Buch oder einen Gedichtband besprechen möchte.

„Gegen acht im Park“ ist ein Lyrikband von Ursula Maria Wartmann. Sie hat mir freundlicher Weise ein Leseexemplar zugeschickt.

Ihre Gedichte lassen mich an Rock’n Roll, manchmal auch an Punk denken. Der Wortrhythmus ist meist schnell, die Themen sind die, die manche gerne auslassen; solche, die das Leben lieber verromantisieren, dem Leiden in der Welt rosa Tülltücher überhängen, die aussparen, was weh tut. Wartmann macht das nicht. Sie benennt das, was schmerzt, heute schmerzt. Sie geht nicht am menschlichen Leid vorbei, nicht an der Verwüstung der Natur, nicht an der Unbill unserer Zeit.

Sie klagt nicht, sie klagt nicht an, sie benennt. In ihrem schnellen Rhythmus schreibt sie über das, was nicht stimmt in unserer Welt. Ja, das tut manchmal weh; so, wie Nachrichten weh tun, so, wie mancher Gang durch große Städte weh tut, wie Kriege und deren Folgen, wie Ungerechtigkeiten, Egoismus, Verhärtungen Diejenigen schmerzen, die sich eine andere Welt wünschen. Wartmann weiß die Worte zu setzen. Hinter dem Schmerz steht die Freude, die Liebe, das Kleine, Leise, Zarte, all das finde ich auch und nicht nur zwischen den Zeilen.

Ein Gedichtband, den ich euch gerne ans Herz legen möchte. Ich hoffe auf mehr aus Wartmanns Feder.

Hier ein Lesebeispiel, eins vom Glück (vielleicht weil Adventzeit ist) –

Natürlich ist es Glück

Natürlich ist es Glück. Im Haar

der Kranz aus blauen Blumen den

heiterste Nachtträume webten

von Norden das Summen der

Kirchenglocken gegen Fensterglas.

Im Hof unten knospen die

Christrosen unterm Laub. Aus

dem Himmel fällt Winterwärme

fällt ins Haar auf die Schläfen erfüllt

das Erwachen mit Kosen

mit Kitzeln. Mit Licht.


„Ursula Maria Wartmann, geb. 1953 in Oberhausen, lebt nach langen Jahren in Aachen, Marburg und Hamburg in Dortmund. Die studierte Soziologin und gelernte Redakteurin wandert zwischen den Welten und Genres: zwischen Roman und Reportage, zwischen Essay, Erzählungen und Lyrik. Sie wurde für ihr Journalistisches Werk mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschienen in der eof ihre gesammelten Erzählungen >Der Bourbon des Grafikers< (2019).“

(aus dem Buch)

Das Coverbild und die vier Illustrationen in SW im Buch aus: Willem Pietersz. Buytewech, „Verscheyden Landtschapjes“ (ca.1616/17)

BoD – Book on Demand, Norderstedt – ISBN 9783750459960  – © edition offenes feld, Dortmund 2020


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Der Apfelbaum

Eine Buchempfehlung

Der Apfelbaum von Christian Berkel

Irgendwann muss es doch mal gut sein! Kann es je einmal gut sein, wenn es um die Greueltaten der Menschen gegen Mitmenschen geht? Ich finde nicht. Christian Berkel findet das auch nicht. Seine Frage ist auch meine Frage, seine Antwort ist meine Antwort und sein Apfelbaum ist auch mein Apfelbaum und dann doch vielleicht eine andere Sorte.

Christian Berkel ist hierzulande mehr als Schauspieler, denn als Schriftsteller bekannt. Manche haben mehrere Talente. Christian Berkel kann schauspielern und er kann schreiben. In seinem Buch „Der Apfelbaum“ beweist er es mit fein gedrechselten Sätzen und tiefen Erkenntnissen.

Der Plot ist Berkels Spurensuche nach seiner Familiengeschichte, seinen Ahnen und ihrem Sein. In seinen Vor- und Zurückblenden schafft er einen Spannungsbogen von den Ahnen zu seinem jetzigen Sein. Das ist nicht nur einfach eine klassische Familiensaga, es ist mehr. Mehr deswegen, weil es um die Traumen von Kriegs- und Nachkriegsgeborenen geht und wie mensch sich als Nachgeborener in diesem Dschungel der Widersprüchlichkeiten zurecht findet.

Meine Mutter erzählte ihre Geschichten auch immer wieder anders. Was konnte ich ihr glauben? Was war Wahrheit, was war Übertünchung? Nie kannte ich mich wirklich aus und mein Bruder auch nicht. Genau das schildert auch Christian Berkel. Wie war ich erstaunt! Zum ersten Mal las ich darüber. Zum ersten Mal deckte sich diese Wahrnehmung mit der eines anderen.

Berkel machte sich auf den Weg. Er ist weit gekommen, viel weiter als ich je kam. Seine Familiengeschichte ist nicht vergleichbar mit meiner, und dann eben doch wieder. Was haben unsere Eltern verdrängt, was geschönt, was schob sich zwischen die nackten Erinnerungen und ihrem Sein? Fragen, die niemand beantworten kann, die im Raum stehen bleiben, über den Tod hinaus. Was haben sie verschwiegen und warum? Kann ich als Nachgeborene ihre Qualen begreifen oder nur erahnen? Was weiß ich von Lagern, von Flucht, von Gefangenschaft, von Hunger und Durst?

Fremdsein im eigenen Land, plötzlich zu den Unerwünschten und den Verfolgten zu gehören, das vereint auf anderer Ebene. Das lässt Mitgefühl für Schicksale entstehen. Das lässt mich und auch Berkel sagen: „Es kann nicht gut sein. Vergebung vielleicht, aber kein Vergessen, solange ich lebe.“

„Vergebung ist der einzige Weg, um den irreversiblen Fluss der Geschichte umzukehren.“ Hannah Arendt

Mich haben viele Zeilen und Abschnitte in diesem Buch tief berüht, letztlich die ganze Geschichte. Denen unter euch, die wie ich finden, dass es noch immer nicht gut sein darf, der/dem möchte ich dieses Buch ans Herz legen und dieses Mal ganz ohne Zitate.

Nur einen kleinen Makel habe ich zu benennen: ich hätte gerne mehr über den Werdegang von Berkels Schwester Ada erfahren.

(Wie ich gerade gesehen habe, ist nun ein Buch von Berkel mit dem Titel „Ada“ erschienen. -M-)

Christian Berkel – Der Apfelbaum – ullstein Verlag ISBN 978-3-548-06086-6


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All over Heimat

Eine Rezension

all over Heimat ist eine Anthologie, herausgegeben von Matthias Engels, Thomas Kade und Thorsten Trelenberg.

Sie sammelten von 150 Autor*innen und Lyriker*innen auf internationaler Ebene Texte und Gedichte zum Thema Heimat. Ein Begriff, der in den letzten Jahren immer wieder besprochen wurde und wird, zu dem sich auf verschiedensten Ebenen Kunstschaffende, Schreibende, Filmemacher*innen Gedanken gemacht haben und machen.

Heimat ist ein großes Wort.

Meinen herzlichen Dank, nun auch noch einmal von dieser Stelle, an Matthias für das Rezensionsexemplar.

Heute ist Premiere. Die Anthologie wird von den drei Herausgebern im Rahmen der Reihe „Nacht der Bibliotheken“ in der Steinfurter Stadtbücherei vorgestellt.

Es wird ein sehr abwechslungsreicher Abend mit Gästen und internationalen Häppchen- literarischer und kulinarischer Art. Wer in der Nähe weilt oder gern ins nördliche Münsterland fährt- wir freuen uns über Besuch!

Mehr kannst du bei Interesse lesen, wenn du dem Link folgst.

Wie aber soll ich nun diese Anthologie rezensieren? Diese Frage stellte sich mir sehr bald, nachdem sie bei mir angekommen ist. Einhundertfünfzig Autor*innen gerecht zu werden ist schlichtweg unmöglich. Einhundertfünfzig Autor*innen heißt auch einhundertfünfzig unterschiedliche Sicht-, bzw. Herangehensweisen an das Thema in zigfachen Facetten. Und genau das macht diese Anthologie so besonders. Heimat ist, je nach Hintergrund der/des Schreibenden, anders, fühlt sich unterschiedlich an, füllt sich mit unterschiedlichen Inhalten.

Geflüchtete Menschen erleben, beschreiben und empfinden Heimat anders als ausgewanderte, als hiergeborene.

Viele, die in Deutschland geboren wurden, hadern mit ihrem Heimatland, auch dieses findet Raum in der Anthologie und ließ mich streckenweise an das Projekt am Ende des letzten Jahres von Graugans aka Margarete Helminger denken: die Mutmaßungen über das Deutschsein, – ein literarisch/philosophischer Adventskalender …

Doch zurück zu all over Heimat

Seit gut zwei Wochen schlage ich die Anthologie immer wieder auf, um einen Text, ein Gedicht zu lesen, manchmal auch mehrere hintereinander, ich wurde noch nicht einmal enttäuscht. Das Niveau ist hoch.

Einhundertfünfzig Autor*innen, aber weitaus mehr Beiträge haben die drei Herausgeber hier versammelt, manche sind nur mit einem Beitrag vertreten, andere mit mehreren.

Sehr gefallen hat mir die Zusammenarbeit von Klára Hůrková mit Monika Littau und Maria Topali, sie haben drei Sicht- oder Erlebnisweisen in einem Gedicht vereint – ungewöhnlich und erfrischend zugleich.

So, wie mich die vielen Gedanken über und um die Heimat herum bewegen und berühren, mich zum Nachspüren und Weiterdenken inspirieren, so gefällt mir auch die Gestaltung des Buches und die Idee nach den Beiträgen die Autorin/den Autor kurz vorzustellen. Es ist anders, ob ich erst nach hinten blättern und die Schreibenden dort aufspüren muss oder gleich etwas über sie lesen kann –

Mein Fazit lautet: sehr gelungen und sehr empfehlenswert. Für mich ist all over Heimat eine Anthologie aus einem Guss.

Sehr gefreut hat mich auch, dass Pega Mund und Diana, zwei Lyrikerinnen von einhundertfünfzig sind. Meinen herzlichen Glückwunsch ihr Zwei, auch von dieser Stelle!

Um euch nun einen Geschmack zu geben, erlaube ich mir zwei Beiträge zu zitieren*. Ja, ich will euch neugierig auf diese gelungene Anthologie machen, das hat sie verdient.

diss heimatdingl

dörfl mir abhanden fein gefältelt im

erinnern laden schübe ballast viel zu viel

von allem drückt mich schweigend

schimmernd scheint erscheint es lampe

lichtmess auf dem tisch die schüssel

weit geschwungen heller dampf und

duftet nach dem beten hör ich löffel

schaben aus den tellern erdäpfel butter

schmales salz

Pega Mund

Mein Garten im Osten

Es gibt dort eine Feuerstätte

nah an den beiden Lindenbäumen

Am Zaun sind tibetische

Gebetsfahnen gespannt

Flieder blüht dort

Pfingstrosen und Jasmin

Im Kreis geordnet stehen

astrologische Zeichen

 

Im Blumenbeet liegt

ein Hund begraben

daneben eine Katze

Am Abend kommen

viele Insekten

und Bachstelzen und Schwalben

Der Kuckuck fragt

aus dem Wald:

Wo ist mein Heim?

Klára Hůrková

Für mich ist übrigens Heimat ein Apfelbaum im Garten … und eine äußerst fragile Angelegenheit



*sollte ich hiermit gegen das Urheberrecht verstoßen oder solltest du, Pega, und Sie, Frau Hůrková, nicht mit der Veröffentlichung deines, Ihres Gedichtes einverstanden sein, so bitte ich mir dies mitzuteilen, dann nehme ich sie wieder raus. Danke.

Der blaue Weg zum Zweiten

Der blaue Weg ist ein Buch von Kenneth White. Er schrieb es in den 1980er Jahren und beschreibt hier seine Reise nach Labrador. Labrador? Ich hole meinen Atlas zur Hilfe, es ist eine Provinz im Nordosten Kanadas. Kalt ist es dort und auch etwas unwirtlich. Einst Wohngebiet der Inuits und anderer nordamerikanischer Ureinwohner*innen.

Kenneth White, geb. 1936 in Glasgow, studierte französische und deutsche Literatur, Latein und Philosophie. Sein „Reisebericht“ ist philosophisch beobachtend, manchmal auch sarkastisch, wenn es um die Besiedlung und Missionierung/Christianisierung durch die Europäer geht.

Es ist auch ein Buch, das von der eigenen Suche erzählt, der Suche nach Stille, nach Natürlichkeit, dem Lied der eigenen Seele.

Es beginnt mit neun Stelen, dies sind neun Zitate anderer Literaten, hier sind sie:

Reisen scheint mir eine nützliche Übung. Die Seele ist dabei in ständiger Bewegung.

Montaigne

Zu jedem Preis und mit allen Tönen, selbst auf metaphysischen Reisen.

Rimbaud

Unsere Zeit ist besonders dadurch gekennzeichnet, dass sie schal ist – schal wie die Literatur. Vordringen in eine neue Welt und dort Bewegungsfreiheit, Neuheit erleben.

William Carlos Williams

Ich bin Rothaut, blauer Bauch, goldener Kopf … Ich mache mich auf, ich haue ab, ich gehe in den Untergrund … den Untergrund der Seele.

Delteil

Echte Kultur kann nur im Raum gelernt werden … Kultur im Raum heißt Kultur eines Geistes, der unablässig im Raum atmet und sich leben fühlt und der Körper des Raums als Gegenstände seines Denkens zu sich ruft.

Artaud

Er muss immer ein bisschen weiter weg gehen, da ist sein einziges Zuhause.

Bataille

Blaue Seele, dunkles Wandern.

Trakl

Wer fremd ist, wandert vorwärts. Er irrt nicht ohne jede Bestimmung ratlos durch die Welt. Er ist auf der Suche nach dem Ort, wo er eine Bleibe finden kann.

Heidegger

Der Weg vollendet sich. Der Schnee fällt in tausend Flocken. Mehrere Rollen blauer Berge sind gemalt worden.

Shōbōgenzō

Kenneth White selbst schreibt im Vorwort:

Was ist denn ein blauer Weg? wird man fragen. Ich weiß es selbst nicht genau. Da ist natürlich das Blau des weiten Himmels, da ist das Blau des Flusses, des mächtigen Sankt-Lorenz-Stroms, und weiter weg dann das Blau des Eises. Aber all diese Bilder und noch ein paar andere, die mir einfallen, wenn sie zu mir, zu meinen Sinnen und meiner Einbildungskraft, sprechen, reichen bei weitem nicht aus für die Tiefe des „Blaus“.

Ist es also etwas Mystisches?

Ich möchte mich hier nicht auf eine Diskussion über dieses abgedroschene Wort einlassen (etwas viel Lebendigeres ruft uns), aber wenn ich im Geist einen Augenblick in der Sphäre verweile, fällt mir ein, dass in gewissen alten Überlieferungen vom wandernden Mystiker die Rede ist und davon, dass ein Mann, der in „westlicher Verbannung“ lebt und seinen „Orient“ finden will, den Norden passieren muss …

…Der blaue Weg, das ist vielleicht einfach der Weg des Möglichen.

Jedenfalls wollte ich hinaus, dorthin, und sehen.

Und weiter schreibt er:

Seite 11 und 12

Lange Zeit habe ich versucht, mich eines dicken Buches, eines der dicksten, die es gibt, und das mich erdrückte, zu entledigen und der ganzen geistigen Verwirrung, die es gestiftet hat. Ich wollte der Besetzung der Welt durch Jehova und ein paar anderen entfliehen. Das ist vollbracht. Aber ich muss auch weitergehen. Nach Labrador. Ja, dort schließt sich der Kreis, dort kehre ich an meinen Ausgangspunkt zurück, schlucke meine Geburt, entwickle alle Negative meiner Adoleszenz und werf einen ernsthaften Blick auf mein ursprüngliches Gesicht.

Was ich im Moment brauche, ist Raum, ein großer Lebensraum für die letzte Meditation.

Seite 22 und 23

Institutionen und Individuen werden nie dieselbe Wellenlänge haben. Deshalb bin ich Anarchist. Ein lachender Anarchist.

Seite 33

Der Indianer wird nach und nach verdrängt. Der Eindringling wird zum Einwohner, und der Eingeborene wird unerwünscht.

Seite 44

Wir fahren durch den Kenogami Wald, dann den Lac Saint-Jean entlang.

Ich frage mich, wann wir diese ganze biblische Toponymik endlich loswerden. Den indianischen Namen dieses Sees kenne ich nicht, aber ich möchte wetten, dass er schön war und genau. Vielleicht hieß er Blauer-Wellen-See oder Sommerstürme-See oder Viele-Bäume-See. Benannt von Leuten, die ihn wirklich kannten, die mit seiner physischen Realität in Berührung kamen. Aber Lac Saint-Jean, ich bitte Sie! War der heilige Johannes denn hier? Von wegen! Er latschte durch Galiläa. Und die Leute, die den See Lac Saint-Jean getauft haben, waren auch nie wirklich hier. Ihre Hinterköpfe klebten an einem dicken schwarzen Buch. So verpassten sie der Wirklichkeit Namen aus diesem Buch und gingen hin und arbeiteten und vermehrten sich, wie das Gesetz es ihnen befahl. Das ist Kultur, um welches Buch oder Gesetz auch immer es sich handelt. Und das hat nichts zu tun mit all ihrer Schönheit empfundenen Wirklichkeit. Deshalb konnte Flaubert sagen, dass „die Kultur eine Verschwörung gegen die Poesie“ ist.

Seite 57



Dieses Buch hat mich zu einem eigenen Text inspiriert, der dieser Tage folgt.



Kenneth White – Der blaue Weg – Eine Reise ISBN 3-596-25343-8 – das Buch ist nur noch antiquarisch zu bekommen, man muss etwas forschen, damit es erschwinglich ist.

Von Vorstellungen und vom Gehen

In der Vorstellung von Langzeitreisen Zufuß oder per Auto, Bus, Bahn sind Regen- und Winterzeiten an der Peripherie gelagert, Einsamkeit ist nur ein Wort.

Werner Herzog ging vom 23.11.-14.12.1974 von München nach Paris. Lotte Eisner war schwer erkrankt, es hieß sie könne sterben. Herzog ging gegen ihr Sterben an, er wollte sie noch nicht verlieren, persönlich nicht und auch nicht für den Film.

Er ging über die schwäbische Alb, den Schwarzwald, zum Rhein hinunter, durchquerte das Elsass und erreichte nach zweiundzwanzig Tagen Paris. Unwetter, Regen, Schnee, Eis, Hagel, Blizzards ziehen über ihn hinweg und durch ihn hindurch. Nur manchmal blitzte die Sonne auf, das war noch jedes Mal ein Fest.

Zweiundzwanzig Tage an denen er an jedem Abend den vergangenen Tag schreibt, eine Mischung aus Gesehenem, Erlebtem, Gedachtem, Gefühltem, Träumen, Erinnerungen, Geschichten.

Wenn Einer nur geht, nur ab und an eine Gaststätte aufsucht oder eine Pension, kleine Läden betritt für die tägliche Ration, nur wenige Worte wechselt, dann beginnt der Geist eigene, andere Wege zu gehen.

Herzogs Aufzeichnungen gleichen Kurzfilmsequenzen. Seine Sätze höre ich von Bruno Ganz intoniert. Es sind Sätze, die nicht vorüberziehen. Tief, schön und wahr stehen sie fest auf dem Papier, sie lassen sich festhalten. Dieses Mal ist es kein Film ohne Stopp-, Vorwärts- und Rückwärtstaste.

Seit gestern Nachmittag brennen meine Fußsohlen. Als ob sie begonnen hätten zu brennen, weil Werner Herzog zweiundzwanzig Tage über Stock und Stein gegangen ist. Anfangs hatte er Schmerzen und Blasen. Er musste sich eingehen, den Punkt erreichen von dem die Füße und Beine von alleine liefen und den Raum für die Gedanken freigeben konnten.

Während ich lese befinde ich mich immer intensiver in den 1970er Jahren. Ich gehe nicht oft in ihnen spazieren. Jetzt kann ich diese Jahre wieder riechen, sehe Straßendörfer, Dorfstraßen, Feldwege, Kastanienalleen und der Krieg hockte noch überall zwischen den Gemäuern, den Wegen, in Orten, in den Gesichtern, er war noch nah, auch bei Werner Herzog. Jetzt hat sich der Zweite Weltkrieg in die Falten der Geschichte gelegt, er bleibt ein Mahnmal. Wer lässt sich von vergangenen Leiden und Gräuel mahnen, wenn es um Pfründe geht?

In der Vorstellung läuft Einer leichtfüßig von München nach Paris, weil er will, dass Lotte Eisner weiterlebt, weil er alleine sein will. Er denkt nicht an Begegnungen, an Tiere, an Wetter, nicht an Einsamkeit, sie kommen über ihn.

Im Wirtshaus

Als ich aus dem Fenster sah, saß auf dem Dach ein Rabe mit eingezogenem Kopf im Regen und bewegte sich nicht. Viel später saß er immer noch da, reglos und frierend und einsam und still an einem Rabengedanken. Da fuhr ein brüderliches Gefühl in mich hinein und eine Einsamkeit füllte die Brust. (S.23)

Dörfer

Die Dörfer stellen sich beim Näherkommen tot. (S.24)

Weil ich so einsam bin, schenkt mir die rundliche Bedienung über das lauernde Schweigen der Männer hinweg ein fragendes Wort. (S.63)

Mäuse

Mäuse sehe ich so viele. Wir haben alle keine Ahnung mehr davon, wieviele Mäuse es auf der Welt gibt, es ist unvorstellbar. Die Mäuse rascheln ganz leise im niedergedrückten Gras. Nur wer geht sieht die Mäuse. ( … ) Mit Mäusen ist Freundschaft möglich. (S.56)

Vom Gehen

Die Sohlen kochen von dem glühenden Kern im Innern der Erde. Die Vereinsamung ist heute noch tiefer als sonst. Ich entwickle ein dialogisches Verhältnis zu mir selbst. Vom Regen kann man erblinden. (S.75)

Vögel

Vögel habe ich aus einem leeren Acker aufsteigen sehen, es wurden immer mehr, die Luft war schließlich ganz angefüllt mit ihnen, und ich sah, sie kamen aus dem Innern der Erde hervor, von ganz tief innen, wo die Schwerkraft ist. Dort ist auch das Kartoffelbergwerk. (S.86)

Wald

Heute sage ich oft Wald zu mir. Die Wahrheit geht selbst durch Wälder. (S.87)

Weitergehen

In Savieres in der Dorfschule überlegte ich, nach Paris zu fahren. Welchen Sinn hat das. Aber so weit gekommen zu Fuß und dann fahren? Lieber die Sinnlosigkeit, wenn es eine ist, bis zur Neige gekostet. (S.92)

Werner Herzog – Vom Gehen im Eis – Fischer Taschenbuch Verlag F.a.M. 1987 – ISBN 3-596-25198-2


Die 1970er Jahre, der Krieg immer noch nah, Dörfer, die sich tot stellen, lauernde Männer im Wirtshaus – welch eine Enge! Ich spüre sie noch, mitten in meinen damaligen Aufbruch hinein.


Es sind solche schmalen Bändchen, die mich immer mal wieder nachhaltig beschäftigen, die etwas bei mir ins Schwingen bringen und Worte eine eigene Melodie entwickeln.


Dieser Artikel ist Irgendlink gewidmet, dessen Radelreiseberichte ich so schätze …

Das wiedergefundene Licht #1

Eine Rezension: Jaques Lusseyran „Das wiedergefundene Licht – Die Autobiographie eines Menschen, den seine Blindheit sehen lehrte“

licht

Das ist mir selten passiert, dass ich ganze Abschnitte, ja, ganze Seiten in einem Buch hätte anstreichen wollen! Ich habe mich entschieden dieses Buch in zwei Teilen zu besprechen bzw. sprechen zu lassen: nach dieser Einleitung folgt nun gleich die eigentliche Buchbesprechung, plus Zitaten aus dem letzten Drittel des Buches. In Teil #2 werde ich an den Anfang des Buches zurückgehen und nur Zitate einstellen, in denen Jacques Lusseyran seinen Weg und seine Erfahrungen der Möglichkeiten von Wahrnehmung teilt.

Selten habe ich mir so intensiv gewünscht, dass möglichst Viele dieses Buch lesen: für eine Blickwinkeländerungen auf Menschen mit einer sogenannten Behinderung, als Mutmacher, dass egal was passiert, die Liebe nicht verloren gehen kann, wenn man es nicht zulässt, aber auch als Antidot für Depressionen!

ob_d29b31_imagesJacques Lusseyran wurde am 19. September 1924 geboren, er lebte mit seinen Eltern in Paris, beide waren Musiker und galten als Antroposophen.

Er beschreibt sich als glückliches und geliebtes Kind. Er war aufgeweckt, ein guter Schüler, wurde von seinen Eltern gefördert, hatte Freunde, nur ein bisschen kurzsichtig war er. Dafür gab es Brillen. Und genau diese wurde ihm zum Verhängnis: ein etwas heftiger Knuff, ein unglücklicher Fall und die Brillenbügel bohrten sich in seine Augen. Der kleine Jacques war acht Jahre alt und erblindete.

Was immer er von sich und seinem Leben erzählt, er vergisst dabei nie die Anderen und besonders Jene nicht, die nicht wie er gefördert und unterstützt wurden. Jacques Lusseyran weiß um sein Privileg Eltern gehabt zu haben, die ihn nicht bestimmten, sondern ihn begleiteten und unterstützten.

Vieles aber hatte er sich und seinen Gaben/Veranlagungen zu verdanken, seinem neugierigen, offenen und wissbegierigen Wesen. Er lernte hören, spüren und sehen. Er liebte- nicht nur das Leben selbst!

Er erkannte schon bald, wenn er aufhörte seinen Blick nach außen zu richten, ihn statt dessen nach innen wandern ließ, dass dort Licht war. Ein helles, warmes Licht, das je nach Stimmung und Gegenüber noch heller, aber auch dunkler wurde. So stellte er fest, dass Angst verdunkelte, Freude erhellte. (In Teil #2 werde ich darauf zurückkommen.)

Wieder und wieder stellte er sich und seine Wahrnehmung auf den Prüfstand und spielte dabei mit den Anderen, ihren Vorurteilen und seiner Blindheit.

Er hatte Freunde, viele Freunde und besonders einen: Jean. Was Jean nicht sah, sah Jacques, was Jacques nicht sah, sah Jean. Alles was sie verband war Ergänzung und nicht nur in Bezug auf sehend oder blind sein.

Das Buch teilt sich für mich in zwei große Kapitel. Die Zeit seiner Kindheit, Schulzeit, hinein in seinen Reifeprozess. Jacques Lusseyrans Leidenschaft galt dem Gebiet der Geisteswissenschaften.

Aber neben seiner persönlichen Welt gab es die Welt, die er mit allen teilte. Der zweite Weltkrieg begann, die Deutschen marschierten in Frankreich ein, die Zeit ihrer Besatzung und ihrer Greueltaten begann sich nun auch hier auszuweiten. Lusseyran nahm Paris und die Menschen darin als in einem Schockzustand gefangen wahr, während sich bei ihm ein immer stärker werdender Widerstandsgeist zu regen begann.

Er war 17, als er sich seinen engsten Freunden anvertraute und ihnen seine Haltung darlegte, dass sie mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen, Widerstand gegen die Nazis leisten, und das französische Volk informieren müssten, was jenseits von kontrollierter Presse und Radiosendungen in der Welt wirklich geschah. Von anfänglich 4 Mitgliedern wuchsen sie zu einer Bewegung, die innerhalb einiger Monate 600 Mitglieder zählte.

Ihre Gruppe, die sich „Volontaires de la Liberté“ nannte, fand Verbündete in der „Défense de la France“. Diese Gruppe hatte die Mittel, die ihnen fehlten: Räume und Maschinen, um eine Zeitung zu drucken. Aus einem simplen Faltblatt wurde eine richtige Zeitung, die gen Ende Auflagen von 250.000 Stück und mehr erreicht hatte, die nicht mehr nur in Paris verteilt wurde, sondern in weiten Teilen Frankreichs.

Das blieb natürlich nicht unbemerkt.

Ihr Potential war ihre Jugend, das wussten sie und gleichzeitg wussten sie von Anfang an wie gefährlich ihre Arbeit war. Es gab kein leichtfertiges, unbedachtes Handeln, dafür allein sorgte schon Jaques Lusseyrand selbst, der als „Chef“ anerkannt war und ohne ihn und sein Urteil niemand in die Gruppe aufgenommen wurde.

Ihm mussten sich interessierte Menschen vorstellen. Er konnte an den Stimmen erkennen, ob sie falsch oder echt waren. Er spürte die Menschen, sah sie auf seine Art, nahm jede noch so kleine Regung an ihnen wahr. Kamen die leisesten Zweifel auf oder verdunkelte sich sein Licht, dann war die Entscheidung gefallen. Bis auf einmal…

Es war die Zeit, als „Volontaires de la Liberté“ und „Défense de la France“ schon zur Résistance gehörten, als sich Lusseyran gegen alle Zeichen für einen Mann entschied, der sie kurze Zeit später an die SS verriet. Es folgten Verhaftungen, Verhöre, Aufenthalte in Fresnes, Folterungen und die Transporte in das KZ Buchenwald e(Siehe dazu auch oben den Link zur Person Jacques Lusseyran)

Jacques Lusseyran hat Buchenwald überlebt, nicht zuletzt auch, weil er seinen Blick nach innen gerichtet hat, weil er liebte und weil er glaubte. Er hatte eine starke Verbindung zu Gott, ohne sich einer christlichen Kirche zu verpflichten oder zugehörig zu fühlen.

Viele seiner Freunde kamen in Buchenwald um. Sein Freund Jean starb auf dem Transport von Fresnes nach Buchenwald.

Hier nun die Zitate aus dem letzten Drittel des Buches,

Im Gefängnis muss man mehr als je in sich selbst leben. Und wenn es einen Menschen gibt, den man nicht – wirklich nicht – entbehren kann (zum Beispiel ein Mädchen irgendwo außerhalb der Mauern), mache man es, wie ich damals: man schaue sie mehrmals am Tage lange Zeit an. Aber man versuche nicht, sich sie dort, wo sie im Moment ist, vorzustellen, dort, wo es überall freie Luft und offene Türen gibt; denn es wird einem nicht gelingen, und es tut weh. Man betrachte sie in sich selbst. Man schneide von ihr alles weg, was Raum ist. Man übergieße sie mit all dem Licht, das man in sich birgt. Man braucht keine Angst zu haben, es zu erschöpfen: Liebe, Gedanken und Leben besitzen dieses Licht im Überfluss. So wird man die Mutter, die Geliebte oder die Kinder gut sehen können. Und einen langen Augenblick wird man nicht einmal merken, dass man im Gefängnis ist. Man glaube mir: das ist es, was das innere Leben zu einem Wert macht. (S. 239)

Es gibt keine „Wahrheit“ über „das Unmenschliche“, so gut wie es keine Wahrheit über den Tod gibt. Auf jeden Fall gibt es sie nicht auf unserer Seite, unter uns Menschen. (S. 250)

… Doch viele starben ganz einfach vor Angst. Angst ist der echte Name für die Verzweiflung. (S. 256)

… Es war der einzige Kampf, den ich zu führen hatte – ein schwerer und wunderbarer Kampf zugleich – : ich durfte nicht zulassen, dass die Angst meinen Körper überfiel. Denn Angst tötet, Freude aber schenkt Leben. (S. 259)

Vergessen: das war das Gesetz. Man musste all das vergessen, die nicht da waren: die Kameraden in Gefahr, die Familie, die Lebenden und die Toten. Selbst Jean musste man vergessen. Nicht, um sich Schmerz zu ersparen – der Schmerz hatte sich ohnehin erbarmungslos bei uns eingenistet -, sondern um sich die Lebenskraft zu bewahren. Erinnerungen sind zu zart, zu dicht an der Angst, sie verzehren die Energie. Man musste in der Gegenwart leben, jede Sekunde mit Haut und Haar verschlingen, sich an ihr sättigen. (S. 266)

Eintausendsiebenhundert Offiziere und Soldaten der SS, die von der amerikanischen Armee gefangengenommen worden waren, waren in einem Block des Lagers untergebracht und ganz unserer Gnade und Ungnade ausgeliefert worden. Eine Tatsache, die erwähnenswert ist: es gab nicht einen Racheakt. Nicht ein SS-Mann wurde von einem Häftling getötet. Es gab nicht einmal Schläge oder Beschimpfungen. Man ging gar nicht zu ihnen hin. (S. 283)

Der allerletzte Abschnitt, beim Epilog angekommen:

Und warum hat nun dieser Franzose aus Frankreich sein Buch in den Vereinigten Staaten geschrieben und legt es heute seinen amerikanischen Freunden vor? Deshalb, weil er seit drei Jahren Amerikas Gast ist. Weil er dieses Land liebt. Weil er ihm seine Dankbarkeit zeigen wollte und kein besseres Mittel sah, sie auszudrücken, als in diesen beiden Wahrheiten, die keine Grenzen kennen und die ihm so vertraut sind: Die Freude kommt nicht von außen; es ist in uns selbst, selbst wenn wir keine Augen haben.

Jaques Lusseyran starb am 27. Juli 1971 bei einem Autounfall in Ancenis, zusammen mit seiner dritten Frau Marie.


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Und immer wieder dachte ich auch an den Film: Das Leben ist schön – ein italienischer Film von Roberto Benigni aus dem Jahr 1997, er führte Regie, schrieb beim Drehbuch mit und spielte die Hauptrolle.

Und immer wieder denke ich auch darüber nach wo wir heute stehen, was seit Jahren geschürt wird. Ich kann nicht mehr sagen: wehret den Anfängen, die Anfänge sind längst vorbei…

Anmerkung

Jaques Lusseyran – Das wiedergefundene Licht – Klett-Cotta im Ullstein Taschenbuch – ISBN 3 548 39029 3 Nov. 1983 – 30.-35. Tsd.

Porträtfoto Jaques Lusseyran:

© https://www.google.de/search?q=Jacques+Lusseyran&client=firefox-b&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwjizP2FppDSAhVMWCwKHV39B0EQiR4Ifg&biw=1280&bih=652#imgrc=pGYXEgNVJrqXmM:

Foto – Buchenwald:

© https://www.google.de/search?q=Jacques+Lusseyran&client=firefox-b&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwjizP2FppDSAhVMWCwKHV39B0EQiR4Ifg&biw=1280&bih=652#imgdii=Nb7B6WZ21gJFIM:&imgrc=WWtZYkaGqzLsvM:

Love is an angel

-Es ist nicht so leicht, über nichts zu schreiben. Genau das sagte ein Cowboy, als ich das Bild eines Traumes betrat. (S. 9)

patti-smithSo beginnt das Buch von Patti Smith M Train, das mich nicht mehr loslässt. Nein, es ist nicht einfach über nichts zu schreiben und doch macht Patti Smith genau das. Sie schreibt auf 329 Seiten über nichts und alles ist da. Ich lese tiefe Menschlichkeit in den Facetten von lebensfroh, kreativ, zu melancholisch, traurig, zu nichts. Zu Fred (ihrem Mann), der starb. Zu früh. Zu den verloren gegangenen Dingen, zu den gehorteten Erinnerungsstücken: Bücher, Fotografien, Steine, Dinge in Regalen und Schachteln. Cafés von denen sie träumt, in denen sie sitzt und auf Servietten schreibt. Cafés, die sind, die schließen, sich wandeln oder von einem Hurrikan ins Meer gespült werden.

-Ich grüße dich, Rynuosuke, ich grüße dich, Osamu, sagte ich und trank meine Schale leer.

Verschwende deine Zeit nicht mit uns, scheinen sie zu sagen, wir sind nur Penner.

Ich füllte die kleine Schale auf und trank.

Alle Schriftsteller sind Penner, murmelte ich. Vielleicht zählt man mich eines Tages auch zu euch. (S. 251)

Vielleicht sind alle Schriftsteller Penner, weil sie unter Uhren ohne Zeiger sitzen, trinken, essen, palavern, bis die erste Amsel singt. Morgengold, Schlafenszeit.*

Ich denke daran, dass ich im Frühling wieder Blumen säen werde. Dass ich für meine Reisen weiterhin Listen schreiben und verlegen, und immer noch zu viel dabei haben werde. Reisen, wandern, über Friedhöfe gehen, sitzen, schauen, reden, schreiben, essen, arbeiten, Holz machen, schlafen, lieben, ich werde alles tun und nichts erreichen. Ich werde kein Ziel haben und dennoch ankommen.

Eine Mütze sollte man haben oder eine Kapuze, einen Mantel, einen Schal, eine Ecke zum schreiben, Wege für die Erfahrungen, Orte für die Erinnerungen, Verbündete, Verwandte, WegbegleiterInnen.

Ein Lied lässt sich finden, zwischen Rhythmus und Nichts.

Mein Mantel war fort. (…) Ich suchte ihn überall vergeblich und hoffe, er wird wieder auftauchen, wie von plötzlichem Licht erhellte Staubpartikel. Dann denke ich, beschämt über meine kindliche Trauer, an Bruno Schulz, der gefangen in einem jüdischen Getto in Polen heimlich das einzig Kostbare übergab, dass er der Menschheit noch vermachen konnte: sein Manuskript Der Messias. Die letzten Worte von Bruno Schulz, verloren im Chaos der letzten Tage des Zweiten Weltkriegs. Verlorene Dinge. Sie krallen sich in die Membranen und versuchen unsere Aufmerksamkeit mit einem unentzifferbarem Notruf zu wecken. Worte taumeln in hilfloser Unordnung. Die Totensprache. (S. 211)

Patti Smith also- ihr Blues, ihre Sinfonie, kaum, dass ich mich an ihre Musik erinnere, kaum, dass ich sie wiederhöre, ist alles wieder da. Alles. Die ganze Zeit.

Ich erinnere mich, jemand hatte erzählt, Patti Smith hätte ihren Sohn (und Mann) verlassen, weil sie keine Mutter sein konnte, weil sie in Cafés sitzen wollte, weil sie schreiben, und ihrer Musik folgen wollte. 1979 war das. Im Oktober kam mein Sohn zur Welt und ich, ich fühlte mich so unfähig, ich wusste nichts übers Muttersein. Ich wusste nur etwas darüber wie ich nicht Mutter sein wollte. Nach vier Wochen packte ich einen großen Rucksack. Ich wollte nach Berlin, ich wollte wieder in Cafés sitzen und schreiben, ich wollte wieder Theater spielen, weil ich nicht Mutter sein konnte, weil Patti Smith das auch getan hatte.

Ich packte den Rucksack wieder aus und schwor meinem Sohn mein Bestes zu geben und blieb. Auch Patti Smith hat ihren Sohn nie verlassen. Eine Mär. Erzählt von wem? Ich erinnere mich nicht mehr!

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Berlin kam später und noch später bekam ich eine nigelnagelneue Spiegelreflexkamera von meinen Freundinnen und Freunden geschenkt. Mein erster Weg führte mich zum Dorotheenstädtischen Friedhof nach Berlin Mitte. Dort wollte ich Brechts Grab besuchen, das ich fand und nicht fotografierte, aber einen Engel.

„Ich fragte mich, ob Brecht wohl geweint hatte, als er das Herz der Mutter brach, die nicht so herzlos war, wie sie uns glauben machen wollte. (…) Meine Mutter war real und ihr Sohn war real. Als er starb, begrub sie ihn. Jetzt ist sie tot. Mutter Courage und ihre Kinder, meine Mutter und ihr Sohn. Nun sind sie Stoff für Geschichten.“ (S. 76)

Als ob Fäden zueinander hinkommen und Knoten bilden. Mütter und Söhne, Friedhöfe und Engel, Mutter Courage und Brecht, Patti Smith und ich. „Love is an angel“, singt sie in einem ihrer Lieder, ich nicke.

„Ich persönlich halte nicht viel von Symbolismus. Ich verstehe ihn nicht. Warum können Dinge nicht so sein, wie sie sind? Mir kam nie in den Sinn, Seymour Glass zu analysieren oder Desolation Row aufzuschlüsseln. Ich wollte mich nur verlieren, mit etwas anderem eins werden, einen Kranz auf einen Turm stülpen aus dem einzigen Grund, weil ich es wollte.“ (S. 79)

So vieles begegnet mir ihn ihrem Buch, das ich teile, dies ist kein Buch, das ich lese und ins Regal zum Verstauben stelle, dies ist ein Buch, das mich nicht mehr loslässt und mich dazu animierte Geschichten zum Nichts zu schreiben. Drei sind es bislang geworden, sie werden hier folgen, eine nach der anderen … noch haben mich weder Buch, noch Nichts oder verloren gegangene Dinge losgelassen…

Anmerkungen

* Patti Smith erzählt von einem Café in dem sie, zusammen mit ihrem Mann und FreundInnen gesessen und bis zu manchem Morgengold palavert hatten, an der Wand hing eine Uhr ohne Zeiger.

Das Bild vom Dorotheenstädtischen Friedhof habe ich aus dem Buch M Train abfotografiert © Patti Smith

 

Connie Palmen – Du sagst es

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Am 03.09. fand ich auf Pagophilas Blog Zitate aus dem Buch von Connie Palmen: Du sagst es. https://pagophila.wordpress.com/2016/09/03/du-sagst-es/

(Liebe Pagophila, ich bin dir unendlich dankbar für diesen Buchtipp, dies ist ein Buch, das mich nun bis ans Ende meiner Tage begleiten wird – merci vielmals!)

Die Zitate sprachen mich so sehr an, dass ich sofort das Buch bestellte. Connie Palmen leiht in diesem Werk Ted Hughes ihre Stimme und lässt ihn über seine Liebe zu Sylvia Plath sprechen. Sylvia Plath und Ted Hughes waren beide Schriftsteller. Sie waren sieben Jahr lang ein Paar, bis sich Sylvia Plath das Leben nahm. Zurück blieben ihr Ehemann und zwei gemeinsame Kinder. Für die Öffentlichkeit war Ted Hughes der Bösewicht, der seine Frau in den Tod getrieben hat, sie die Märtyrerin. Connie Palmen hat für ihr Werk 88 Gedichte aus dem Band „Birthday Letters“ von Ted Hughes als Leitfaden benutzt und sich durch etliche Archive hindurch gelesen, auch aus denen von Sylvia Plath, bevor sie im Namen von Ted Hughes dieses Buch schreiben konnte.

Connie Palmen ist Niederländerin, 1955 geboren, sie hat Philosophie und Niederländische Literatur studiert. Ich freue mich sehr, dass meine Freundin U. mir gleich zwei ihrer Bücher ausgeliehen hat. Denn nicht nur Sylvia Plath und Ted Hughes möchte ich lesend näher kommen, gerne auch Connie Palmen.

Es folgen etliche Zitate aus dem Buch: Du sagst es, die mich besonders berührt haben und in mir nachwirken:

„Ich liebte sie, ich habe nie aufgehört sie zu lieben. Wenn ihr Selbstmord die Falle war, in der sie mich fangen wollte, um mich zu verschlingen, in sich aufzunehmen, zu einem Körper zu werden, ist ihr das gelungen. Ein Bräutigam, der Geisel des Todes ist, in einer posthumen Ehe auf ewig mit seiner Braut verbunden, so unzertrennlich von ihr, wie sie es wollte.

Ihr Name ist mein Name.

Ihr Tod ist mein Tod.

Ich glaube an so etwas wie ein echtes Selbst, und ich weiß, wie selten es ist, so ein Selbst sprechen zu hören, zu sehen, wie es sich aus dem Kokon der Falschheit und des Nichtssagenden herausschält, aus den Scheingestalten, die wir anderen präsentieren, um ihnen zu gefallen, sie irrezuführen. Je gefährlicher das echte Selbst, desto raffinierter die Masken. Je ätzender das Gift, das wir am liebsten über andere ausspeien würden – um sie zu lähmen, zu töten -, desto süßer der Nektar, mit dem wir sie locken, zu uns zu kommen, in unserer Nähe zu sein, uns zu lieben.“

(S.8 – 9)

„Der Dichter ist der Diagnostiker, der Heiler, der das Geschwür lokalisiert, bevor der Patient weiß, dass er an einer unheilbaren Krankheit leidet, ja, sogar bevor er den Schmerz fühlt, der ihn vor dem Trauma warnt.“

   (S.26)

„Ich begann gerade erst, die Mythologien ihres Lebens zu entschlüsseln, und ließ sie die meine lesen. Die Mythen sind das kunstvolle Archiv universeller menschlicher Wahrheiten, entdeckt und niedergeschrieben, um unser Überleben zu sichern, das Verzeichnis des Kampfes, den die menschliche Einbildungskraft im Laufe der Jahrhunderte austrägt, um äußere und innere Welt miteinander zu vereinen. Sie legen das Muster unseres seelischen Dramas frei, enthüllen das Gewebe unseres Charakters, unserer wichtigsten Beziehungen, der Emotionen, die uns antreiben. Jegliche Literatur entspringt einer verletzten Seele, der geistigen Anstrengung des menschlichen Abwehrsystems, uns von diesem Schmerz zu befreien und den Tod zu besiegen. Die Suche nach dem höchsten Wissen – dem über sich selbst – führt zu einem Charakter, dessen Prototypen Held oder Feigling, Gott oder Rebell sind. Und manchmal müssen wir unseren Mythos lesen lernen, um rechtzeitig aus dem narrativen Käfig eines alten Szenarios entkommen zu können, des vorgezeichneten Schicksals, dem die Figur scheinbar willenlos gehorcht …“

(S.29-30)

„Wer schöpferisch sein will, muss in seinem Leben Dutzende Male sterben. Er muss sich loslösen, von geliebten Menschen trennen, vom Boden, vom Land, der Familie, seinen Freunden und vor allem seinen Ideen, in die er sich eingekapselt hat. Keine Wiedergeburt, ohne dass zuvor ein Tod stattgefunden hat. Die Literatur liebt die Zerstörung, die ein neues Leben ermöglicht.“

(S.32)

„Im täglichen Leben versuchen wir, uns dadurch besser verständlich zu machen, dass wir die Sprache anderer übernehmen, und hoffen, so eher begriffen zu werden, doch in der Nacht, wenn die Ratio und die gesellschaftliche Anpassung eingenickt sind, spricht ein ungebundenes Selbst in einer höchsteigenen Sprache zu uns (…) Für einen Dichter ist das Unbewusste ein Speicher des Wissens, kunstvoll verformt durch eine jahrhundertealte Bildsprache, mit der er sich vertraut machen muss, an deren Entschlüsselung er sich wagen muss, weil sie eine Wahrheit über ihn enthält, die sich auf keine andere Weise äußern kann als in hermetischer Form. Kein anderer träumt, was du träumst. Die Bilder – archaisch und archetypisch in ihrer Symbolik – sind für dich bestimmt, dargereicht vom Verborgenem und Essentiellsten deiner selbst. Wer keinen Zugang zu diesem kryptischen Teil seiner Persönlichkeit hat, bleibt ein Dichter gespreizter Verse, die genauso angepasst und künstlich fabriziert sind wie die Persona, mit der wir täglich ans Licht treten und anderen begegnen.“

(S.36)

„Poesie entsteht oft unwillkürlich, ist eine Wahrheit, die uns herausrutscht, die sich durch die gewählten Verhüllungen hindurch Bahn bricht. Sie entzieht sich unserem Wunsch etwas zu verbergen.“

(S.41)

„Natürlich kann man über Dichotomien, Karyatiden und Epitaphe schreiben, aber dann müssen in derselben Strophe auch ein paar Kaninchenköttel, ein Lippenstift und ein nasses Papiertaschentuch auftauchen.“

(S.48)

„Jeder Schriftsteller, der so eng an seine Autobiographie gebunden ist, beschränkt sein Werk auf ein individuelles Schicksal und verbaut sich den Zugang zum Universellen und Heiligen, den Zugang nicht nur zu der Welt, die seit Anbeginn der Zeiten alles und jeder mit allem und jedem verbunden ist, sondern auch zu der Literatur, in der unsere Vorläufer dem, was Leben für ein jedes Wesen bedeutet, erzählend Gestalt verlieh.“

(S.49)

„Was mich an der gängigen Psychologie und Soziologie ärgert, ist die Verkennung des Wissens, das von alters her in Mythen, Volksmärchen, Fabeln und der poetischen, vorwissenschaftlichen Art der Wiedergabe gespeichert ist. Es gibt nicht so etwas wie den neuen Menschen. Er wird immer einen Körper haben und einen Geist, und seine Psyche ist genauso begrenzt ausgestattet wie der Körper mit Kopf, Rumpf, Armen, Beinen, Wasser, Blut und Eingeweiden. Was sich als moderne Sicht des Menschen und der Welt geriert, ist seit Jahrtausenden ein und die gleiche Geschichte mit ein und den gleichen Charakteren, nur wurde sie immer wieder in eine neue Form gegossen. Wer die Mythen kennt, sieht sie in jeder Gestalt wiederkehren, die Helden und die Feiglinge, die Herren und Knechte, die Götter und gefallenen Engel, den Verrat, den grausamen Tod und die Wiederauferstehung, Zersplitterung und Wiederherstellung der Einheit, den Doppelgänger, die Späße und Possen der Betrüger und Schelmen, die Verurteilung, Bestrafung und Erlösung des Sünders, die verbotene Liebe zwischen einem Mann und einer Frau feindlicher Stämme, die Frau als Jungfrau, Mutter und Hexe, die Gralssuche nach dem ultimativen Wissen, nach dem echten Selbst, das Aufbegehren gegen den Vater, das Gesetz, die eigene Natur. Es ist gesehen, gedeutet und in einer anschaulicheren, reicheren Sprache als der der Wissenschaft beschrieben worden. Um Prophezeiungen machen zu können, braucht man nur den Faden eines bekannten Schicksals aufzurollen, den unausweichlichen Plot einer alten Geschichte, die Tragik eines Archetypus. Wenn man Ikarus begegnet, weiß man, dass er eines Tages abstürzen muss, wenn man neben einem Dr. Jekyll schläft, weiß man, dass man am nächsten Morgen neben Mr. Hyde aufwacht kann. Und wenn man Elektra begegnet, weiß man, dass sie ihre Mutter ermorden wird beziehungsweise die Mutter in sich selbst.“

(S.71/72)

Shikasta von Doris Lessing – eine Anklage

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Ein Buch, das ich nie vergaß. Obwohl ich damals den Einstieg schwierig fand, las ich es zweimal in den frühen 1990ger Jahren. Jetzt, beim erneuten Blättern und Querlesen, ist es ganz anders, als ich es erinnere, allerdings nicht im Wesentlichen (was mich beruhigt), und schon gar nicht in dem Punkt um den es mir hier und jetzt geht.

Kurzeinführung:

eine höhere Intelligenz beobachtet über Jahrtausende die Erde und beschreibt die verschiedenen Zustände darauf- die Erde heißt Shikasta = die Gebrochene.

Was ich erinnere (und das ist wahrlich nicht vollständig!):

Wir, die LeserInnen, lernen die Zeit vor der Sesshaftigkeit der Menschen kennen. Menschen, Tiere und Pflanzen leben noch in einer friedlichen Koexistenz. Dann erleben wir das England der 1970ger Jahre und den Kampf der IRA. Es folgt ein weiterer Zeitsprung, Es ist die Zeit nach unserer Jetztzeit: Europas Böden sind unfruchtbar und ausgedörrt, die europäischen Völker liegen am Boden, Afrika ist ein Seuchenherd, China hat die Weltherrschaft. In dieser Zeit findet der sogenannte Prozess statt. Unter freiem Himmel, in einem griechischen Amphitheater klagen die farbigen Völker der Erde die Taten der weißen Völker an. Und weil es so erschreckend wahr ist, möchte ich nun einfach die Stimmung dieser Nochkommendenzeit und einige wenige der Anklagen zitieren, doch zuvor möchte ich noch betonen, dass Doris Lessing dieses Buch 1979 schrieb!

Aus Rachel Sherbans Tagebuch:

„Eine Menge Flüchtlinge aus dem neuen Krieg sind angekommen, und wir hatten zwanzig in dieser Wohnung. Irgendwie musste es gehen. Jetzt sind sie in ein Lager gezogen. Überlebende. Überleben. Ich verstehe nicht, warum sie es unter so vielen Mühen versuchen… Eine Million Menschen sind letzte Woche gestorben. Warum sollte es da eine Rolle spielen, ob Rachel Sherban leben bleibt.“ (S.411)

Zerstörung

0052 03.02.16 Zerstörung

Aus einem Bericht vom Prozess:

„Ich hasse die weißhäutigen Völker. Sie stoßen mich physisch ab. Ihr Geruch beleidigt mich. Ihre Gier hat in mir nie etwas anderes als Abscheu erregt. Sie sind plump in ihren Bewegungen, ungelenk im Denken, eindimensional und anmaßend. Ihr Überlegenheitsgebaren ist wie das des Trampels vom Lande, des Mannes, der in seinem Dorf groß ist und nicht merkt, wie lächerlich die Städter sein Schwadronieren und Aufschneiden finden. … Noch in der Phase ihres Niedergangs und Unterworfenseins gelingt es einigen, genaugenommen sogar vielen, sich zu benehmen, als seien sie widerrechtlich der ihnen zustehenden Pfründe beraubt worden, und einigen gelingt sogar das Gebaren des enteigneten Herrschers, der den Pöbel tapfer erträgt.(S. 430/31)

Der Prozess selbst wird von George Sherban eröffnet, der die farbigen Völker vertritt, die später nach und nach für sich selbst sprechen werden, während für die weißhäutigen Völker nur ein Mann als Angeklagter fungiert, ohne jegliche weitere Unterstützung.

Es spricht George Sherban:

„Ich eröffne diesen Prozess mit einer Anklage. … Es sind die weißen Rassen dieser Erde gewesen, die sie zerstört haben, sie zugrunde gerichtet haben, die jene Kriege heraufbeschworen haben, die sie vernichteten, den Grund gelegt haben für den Krieg, den wir alle fürchten, die die Meere vergiftet haben und die Gewässer und die Luft, die alles für sich erbeutet haben, die die Qualität der Erde verwüstet haben, vom Norden bis in den Süden, vom Osten bis zum Westen, die sich immer arrogant verhalten haben und voller Verachtung und barbarisch gegen andere und sich vor allem des höchsten Verbrechens der Dummheit schuldig gemacht haben- und die jetzt die Bürde der Schuldhaftigkeit auf sich nehmen müssen, als Mörder, Diebe, Zerstörer, für die entsetzliche Lage, in der wir uns alle befinden.“ (S.449)

Erdschrei

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Das immer wiederkehrende Resümee fast aller Zeugen:

„… und haben sich stets der beleidigenden und unmenschlichen Verachtung, der Dummheit und der Missachtung des Volkes und unserer … Geschichte schuldig gemacht.“ (S.451)

Ein junger Mann vom Stamme der Hopi aus dem Südwesten der Vereinigten Staaten …:

„Europa sei voller elender, hungernder Menschen gewesen, wegen der Gier seiner herrschenden Klasse. Als diese mit Füssen getretenen Untertanen protestierten, wurden sie verfolgt, gehängt dafür, dass sie ein Ei oder ein Stück Brot gestohlen hatten, ausgepeitscht, ins Gefängnis geworfen … sie wurden dazu ermutigt das Land zu verlassen und nach Nordamerika auszuwandern, wo sie den Indianerstämmen, die hier in Harmonie mit der Erde und der Natur lebten, systematisch alles wegnahmen. Es gab keinen Trick, keine Grausamkeit oder Brutalität, vor der diese weißen Diebe zurückgeschreckt waren. Als sie das Land von einer Küste bis zur anderen vereinnahmt hatten, die Tiere getötet, die Bäume und den Boden zerstört hatten, sperrten sie die Indianer in abgegrenzte Bezirke und misshandelten sie. Diese Menschen, die wegen der Gier und der Grausamkeit ihrer Landsleute in dieses Herrliche Land der Indianer gekommen waren, vergaßen ihre nur so kurz zurückliegende Leiden und wurden genau wie jene …“ (S. 455)

eine Collage von 2009*

170 09.06.

Weitere Berichterstattung:

„ Diese Anklage war noch gewaltiger, als die der Indianer der Vereinigten Staaten, da die Ereignisse nicht so weit zurücklagen. Einige der Opfer standen vor uns … Das Eindringen Europas nach Südamerika. Die Unterwerfung hervorragender Kulturen durch Raubgier, Gefräßigkeit, Arglist und Betrügerei. Die Grausamkeiten des Christentums. Die Unterwerfung der Indianer. Das Einschleppen von schwarzen Menschen aus Afrika, der Sklavenhandel.

Die Verwüstung des Kontinents, seiner Ressourcen, seiner Schönheiten und Reichtümer.

Die beiläufige oder absichtliche Ermordung von Indianerstämmen um ihres Landes willen, durch mitgebrachte Krankheiten, Hungersnöte, Plünderungen- Verbrechen, die noch nicht einmal jetzt abgeschlossen sind, denn immer noch gibt es Einschlüsse von verwertbarem Wald -, und jeder weiß, wenn es etwas gibt, das Profit verspricht, wird es früher oder später ausgebeutet werden. Die Zerstörung der Tierwelt, der Wälder, der Gewässer, des Bodens…“ (S. 460-61)

blue africa

0170 11.09.15 blue africa

Und so geht es noch viele Seiten weiter. Erschreckend fand ich auch die Aufdeckung der Rolle von Großbritannien in (Süd-)Rhodesien, dem heutigen Zimbabwe. Da es über viele Seiten geht, würde es hier den Rahmen sprengen. Ich sage nur: Ignoranz. Der Prozess endet nach einigen Wochen damit, dass sich der Vertreter für die weißen Völker in allen Punkten schuldig erklärt … was die Sache nicht leichter macht.

Am Ende mussten sich auch die farbigen Völker die Frage gefallen lassen, warum so viele von ihnen dem Beispiel der weißen Völker folgten, anstatt gegen sie zu kämpfen und ihre Rechte zu verteidigen.

Heute findet genau dies statt, es gibt ein erwachendes Selbstbewusstsein der unterdrückten Völker, die sich auf ihre Kultur, ihr Gut berufen, die anklagen und auch fordern, wenn auch oft noch zaghaft und immer noch meistens ungehört … Heute stehen wir vor diesem Szenario, wenn auch (noch) nicht in einem griechischem Amphitheater, aber die Anklagen sind die Anklagen und sie sprechen wahr.

Doris Lessing hatte eine Weitsicht, die mich schon damals erschütterte, die mir aber auch Angst macht(e), da ich von einer Umkehr des Denkens und der Gier nichts sehen kann. Ich sehe auch nicht weniger Dummheit, nicht weniger Arroganz …

Und wie ich all diese Gier verabscheue und mich gleichzeitig schäme, dass ich so wenig für die notwendige Umkehr beitragen kann!

Trost und Trost-losigkeit:

Das ist ein Satz von einem Lakota – John Trudell – ehemaliger AIM-Aktivist und Musiker, der in dem Film „No more smoke signals“ sagt:

„Es gab immer schon Weiße, die mit uns sympathisierten. Sogar auf den ersten Schiffen, die landeten. Genutzt aber hat es uns noch nie…“

Anmerkungen
  • die abgebildeten Kinder auf der zweiten Collage sind mein Sohn und meine Tochter, leider weiss ich nicht mehr woher ich die anderen Bilder habe, geschweige denn den Namen des Illustrators, der Illustratorin. Da ich kein Urheberrecht verletzten will, bitte ich sich bei mir zu melden, damit ich dies anfügen kann – danke)
  • hier → kann man mehr über das Buch erfahren
  • Doris Lessing – Shikasta – ISBN 3 – 596 -29146 -1  – © 1979 Doris Lessing – 20.-21.Tausend: Oktober 1990