Seite für Seite zog mich Hanns-Josef Ortheil in seinen Bann. Er stieß Seelesein und Schreibeseele zart, aber unüberhörbar an. Es ist das Feine und Genaue bei ihm, dass ich schon in seinem Buch „Die Erfindung eines Lebens“ empfand und dann in „Liebesnähe“. Er ist mir Heimat und Verortung in einem. Verortung … ein Wort, das ich bei ihm fand und er bei Gary Snyder, so lernt man voneinander und lässt sich inspirien. Dieser Schriftsteller, ein großartiger Erzähler, berührt mich, schenkt mir Heimat in den Worten. Ortheil der Bildersammler und Bilderhüter, der Spaziergänger, der Sinnliche. Seine Stille kann ich atmen. Seine Berge und Täler bin ich schon gewandert. Seine „Liebesnähe“ lässt mich eine Tuschezeichnung denken: ein Berg, ein Fluss, ein Baum – eine Kiefer vielleicht, eine knorrig gewachsene – an seinem Ufer. Kiefer schneidet den Fluss in zwei Teile. Wohlwissend, dass es ein Fluss ist, der aus den Höhen herunterströmt, um, im Tal angekommen, den Fuß des Berges zu umschmeicheln.
Und immer ist ein Mond, ein Vogel, ein Baum ein Flüstern von Lebendigkeit.
Gestenreiche Nähe spinnt Sehnsucht im Wortlosen nach Geschmeidigkeit
Ortheil fand seine Inspiration in dem Kopfkissenbuch der Hofdame Sei Shogun, in Matsou Bashos: Auf schmalen Pfaden durchs Hinterland und bei Issa: Die letzten Tage meines Vaters. Nicht zu vergessen in der Performance von Marina Abramovic: The Artist Is Present. Hier betrat ich, während des Lesens. ein gemeinsames Feld. Noch bis Anfang des Jahres wusste ich fast nichts von und über Marina Abramovic, dank Mützenfalterin erfuhr ich vieles und teilte sofort ihre Faszination. Neugierig begann ich selbst zu forschen und konnte nun Ortheils Metaphern verstehen. Gleichzeitig erinnerte ich mich an meine Collage:
Entmaskierung

Liebe blüht nicht in zu engen Korsetts, nicht unter Masken und nicht, wenn Angst regiert …Liebe braucht Weite und Mut. So las ich und dachte an die Närrin, die einst ein Narr gewesen ist, die vom Sockel stieg, um ins Weit zu schreiten. Nichtswissend. Nichtsahnend. Ortheil holt mich bei mir im Jetzt ab, er schrieb:
… Die Lektüre sollte einfach passen, das ist es. Nicht jede Lektüre passt, auch wenn das Buch, für sich genommen, noch so gut ist. Man braucht gar nicht einmal viel Zeit, um jeweils herauszufinden, was passt. Man beginnt einfach zu lesen, und schon nach kurzer Zeit zieht einen das Buch in sich hinein oder eben nicht. Und die Folgen dieses Kontakts bestehen dann darin, dass man von sich selbst zu sprechen beginnt und sich über dies und das klarer wird. Die Lektüre dringt in einen ein, sie verleiht einem Worte, ja, sie lässt einen über Sachen und Dinge sprechen, über die man sonst niemals gesprochen hätte. Das ist das ganze Geheimnis. …
Es ist die Geschichte von einer Frau und einem Mann, die zur selben Zeit in einem Hotel in den bayrischen Bergen ankommen. Sie, um zu arbeiten. Er, um zu verweilen und seine Freundin, die Buchhändlerin im Hotel, zu besuchen. Die erste Begegnung zwischen ihr und ihm findet im Aufzug statt und so spinnt sich ein leiser Faden von Seele zu Seele. Die Buchhändlerin, auch ihre Freundin, ist Zuschauerin und schmunzelt …
Ich fand Weite und offenen Raum, weitere japanische Tuschezeichnungen bebilderten die Buchstaben. Selbst mein schon lang erträumtes Gartenhaus fehlte nicht:
… Das Zimmer (im Gartenhaus) hat sich stark verändert, es wirkt jetzt nicht mehr wie ein kleiner Wohnraum, sondern wie ein weiter,offener Raum …
Der Raum, den es braucht, um sich in Liebe zu begegnen, um dem Sehnen Gesten folgen zu lassen.
„Liebesnähe“ ist feinste, erotische Literatur, wie ich sie schätze:
… Nichts mehr denken, nur noch blicken und schauen …, wie die Schutzschicht der Haut sich in feines, poröses Gewebe verwandelt und die Adern plötzlich wieder zu spüren sind. Das Strömen des Bluts, der tiefer werdende Atem, als würden alle Lasten endlich verschwinden. …
… Die Leere eines altjapanischen Raumes, die ausschließliche Fixierung der Liebenden auf die Bewegung ihrer Körper … – wie sie die Bewegungen langsam und allmählich vorantreiben, wie sie ihre Bewegungen studieren und auf jeden Reflex eingehen. …
… Die Liebe der Körper hat mit Sex wenig zu tun, sie spielt mit diesem Satz und mit dem lästigen, aufdringlichen Wort, sie möchte es verscheuchen oder wegkicken, und sie möchte neue Worte und Metaphern erfinden, um dieses Spiel zu beschreiben. Einverständnis! Einklang! – wären das solche Worte? Nein, sie sind zu passiv, zu matt und vor allem zu blass. Die Liebe der Körper ist nichts Harmonisches, nein, diese Liebe entwickelt sich langsam und entsteht aus dem Spiel all der kleinen Feuer, die sich während der letzten Tage entzündeten. In den Momenten des höchsten Glücks hat die Sprache sowieso nichts mehr zu suchen, nein, in solchen Momenten sind nur noch die Ur-Laute da, ein Lallen, ein Rufen, ein Bitten, ein Stammeln. Gegenüber solchen Lauten hat jeder Satz oder jedes Wort keine Kraft, sie kommen zu spät, sie stimmen mit der Empfindung nicht mehr überein, nein, sie haben etwas falsch Beschönigendes, Glattes.
Die Sprache der Glücksmomente ist aber in diesem Sinne nicht „schön“, sondern rau und abgründig, sie ist ein schallendes Echo des Körpers, sie ist seine Jägerin, die ihn belauert, verfolgt und schließlich stellt: orgiastisches Laufen, Verausgabung, ein lang anhaltender Taumel entlang der Grenzen zum Schmerz, der sich in pures Glück verwandelt, in reine Ekstase. …
… Keine Unterscheidungen mehr, keine Suche nach Abweichungen! Das Ende der ewigen Sucht nach einer Benennung der Differenz!
Wer spricht? Die Sprache der Liebe. …

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