Ich stand auf der obersten Sprosse des Glücks, und mit den obersten Sprossen des Glücks hat es eine merkwürdige Bewandtnis. Sie lassen einem zu wenig Spielraum. Man verbeißt sich geradezu ins Glück und ist strengendstens darauf bedacht, es in seiner gesamten Fülle zu halten. Man weiß, dass es nicht höher hinaufgeht, aber man weiß sehr wohl, dass es einen Abstieg gibt. Außerdem weiß man, wenn man ein gewisses Alter erreicht hat, dass es keinen Dauerzustand gibt. Dieses Wissen macht unruhig, mitunter sogar ängstlich. Das Glück wird zu einem Trapezakt, und ein Trapezakt erfordert höchste Konzentration. Da sind ein Paar Hände, die einen im leeren Raum auffangen und halten, und auf die muss man sich konzentrieren. Alles andere ist auszuschalten – jeder unberechtigte Gedanke, jede von außen oder innen kommende Irritation, jede sich anschleichende Vorahnung, jedes Wort, das aus dem Zuschauerraum zu einem heraufdringt, jedes tanzende Licht, das den Blick abzulenken versucht. Kurzum, man muss sich verkapseln, auf sein Können verlassen und an den Erfolg glauben, hundertprozentig.
Aber ein Trapezakt dauert immerhin nur ein paar Minuten. Dann ist er überstanden, und man kann sich entspannen. Während ein Zustand höchsten Glücks ja gar nicht überstanden werden darf. An eine Entspannung ist demnach nicht zu denken. Man muss auf der Hut sein und darf nicht locker lassen, vom Moment des Erwachens an bis zum Moment des Einschlafens. Auf diese Weise wird das Glück zu einer tagesfüllenden, anstrengenden Beschäftigung.
(…) Glück ist ein ständiges Auf und Nieder und daher ein ebenso unvollkommener Zustand wie jeder andere. (…) Dass mein Glück dieser traumtänzerischen Auffassung nicht standhalten konnte, dass es mit mir zusammen auf der obersten Sprosse zu erstarren drohte, das merkte ich nicht.
Angelika Schrobsdorff – Der Geliebte – Seite 255 in der Taschenbuchausgabe des dtv
Diese Passage sprang mir entgegen, als ich vor ein paar Wochen das wunderbare Buch von Angelika Schrobsdorff gelesen habe. Ein Hoch auf die öffentlichen Bücherschränke und ihre verborgenen Schätze! Ja, manchmal muss ich ein bisschen wühlen, um fündig zu werden. So, wie ich manchmal nach dem Glück Ausschau halte, das sich dann aber nicht adhoc zeigt, so, wie es sich nicht festhalten lässt, wenn es erscheint. Das Glück ist noch nicht einmal das tragende Netz unter dem Trapez, es ist eine Erinnerung, ein kurzer Moment in all dem Auf und Ab des Seins. ‚Der Geliebte‘ war und ist ein Glücksfund und gehört nun zu den Büchern, die ich nicht, nun gelesen, wieder zurück in den öffentlichen Bücherschrank stellen werde.
Wenn auch du einen Moment des Glücks oder deine Gedanken zum Glück teilen möchtest, dann verlinke doch deins mit diesem Beitrag im Kommentarstrang. Am Ende des Monats veröffentliche ich alle bis dahin gesammelten Momente des Glücks.
Willkommen!
Die Zusammenfassung vom März kann ich erst jetzt mit euch teilen, da das Ende des Monats auf Ostern fiel.
Im März beteiligte sich Brigwords – herzlichen Dank dafür
Zwar hatte Myriade gar nicht im Sinn diesen Beitrag meinem Projekt zuzuordnen, aber wir haben uns darauf geeinigt, dass er wunderbar hierzu passt. Nochmals meinen herzlichen Dank dafür!
Sind nicht Zufriedenheit und Entspannung Grundlagen für die Momente des Glücks? Mehr könnt ihr hier lesen -> https://laparoleaetedonneealhomme.wordpress.com/2024/03/30/freitag-29-marz-2024-richtig-blau/
Meinen dritten Beitrag findest du hier ->https://cafeweltenall.wordpress.com/2024/03/15/momente-des-gluecks-03/
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