Bahndammkellerkind

Eine Collage aus Miniaturen, Texten und Neuem

Neubau 1955, ein Eckhaus, vier Stockwerke hoch, schmale Balkone, darüber ein Speicher für die Wäsche, ein Keller für Kartoffeln und Eingemachtes, Fahrräder, Schlitten und was man sonst noch im Keller aufbewahrte. Für uns Kinder war der Keller Spielraum und Begegnungsstätte, Abenteuer und Bastelstube, Reparaturwerkstatt und für mich der Ort für den ersten heimlich peinlichen Kuss.

Aber auch der Ort meiner Angst, die ich versuchte wegzupfeifen, wenn ich mich alleine wähnte. Ein schiefes Lied gegen das laute Pochen in meiner Brust. Dort, allein im Keller mit seinen vielen Winkeln und Verschlägen, seinen Kartoffeln, dem Eingemachten und Ausrangiertem, um etwas zu holen, das Mutter brauchte. Im Keller wohnte auch der Buhmann. Ein finsterer Geselle mit Kohlenstaub an Händen und im Gesicht, der auf die unartigen Kinder wartete. Er erwischte mich nie. Buhmänner mögen keine schief gepfiffenen Lieder.

Ein Eckhaus, drei Häuser zur linken Seite, drei Häuser zur rechten Seite, nahtlose Übergänge, dann Lücken. Neubauten in den 1960er Jahren kamen linkerhand dazu, die rechte Häuserreihe endete in einer Nische, an einer Brandmauer. Von der Straße aus ging es weiter. Zweistöckige Backsteinhäuser, vom Krieg unversehrt geblieben, in dem einen ein Blumenladen im Parterre, im anderen das Kino, dann nichts mehr. Erst nach ein paar Metern, das Büdchen, die Straßenbahnendhaltestelle, dahinter der kleine Bahnhof für die S-Bahn nach Essen oder Düsseldorf Hauptbahnhof.

Der Bahndamm daneben, er lief zu den Schrebergärten und weiter, immer weiter bis Essen oder bis der Weg für uns Kinder endete. Ein weiterer Spielraum meiner Kindheit. Züge fuhren selten. Gleise zum balancieren oder für die Ohren. Stilles Lauschen, bis leichte Vibrationen den herannahenden Zug ankündigten, Zeit aufzuspringen und sich in Sicherheit zu bringen.

Unregelmäßigkeiten im Dammbau durch Regen und Wind, sowie der eine und andere Strauch boten Verstecke, waren Kulisse für Räuber- und Gendarm-, für Cowboy- und Indianerspiele. Das waren die harmlosen Spiele. Heftig wurde es während der Karnevalstage, wenn die großen Jungs Ernst machten. Bis aufs Blut. Nur einmal war ich dabei, dann nie wieder. Mein großer Freund Toni hatte mich gerettet.

Doch zurück zum Eckhaus, dritter Stock, die mittlere Wohnung, die, die um die Ecke ging, mit dem langen Flur. Schräg gegenüber der Wohnungstür das Wohnzimmer mit Gummibaum und Ecksofa, Sesseln, Rauchtischchen, goldenem Aschenbecher zum runter drücken und der immer gefüllten goldenen Zigarettendose. Astor rauchte der Vater, Astor rauchte der Onkel. Ein Wohnzimmerschrank mit Sammeltassen, Wurzelholztüren und versteckter Bar, dem Silberbesteck und dem guten Geschirr für besondere Gelegenheiten. Es ging also schon besser.

1956, als ich geboren wurde, war der Krieg elf Jahre vorbei, die Hungerjahre noch nicht ganz so lang, der Aufschwung war in voller Fahrt.

In der Mitte der Hausreihen ein großer Spielplatz mit Plattenwegen, Bonsaihügeln mit Wiese, einem Schotterplatz, zwei Toren, einem Sandkasten, einem Klettergerüst und drei Schaukeln für fünfzig Kinder in allen Größen. Dort wuchs ich heran.

Wir spielten Murmelspiele, Hinkekästchen, wilde Jagden, Fuß-, Brenn- und Völkerball, Ochsenberger-eins-zwei-drei, Mutter-Mutter-wie-weit-darf-ich-reisen, Vater-Mutter-Kind.

Viele Mütter, viele Väter, viele Kinder, ehrliches Brot, gesunder Stolz und am Samstag großes Reinemachen. Der Sonntag- und der Satansbraten, Montagnudeln, Dienstageinerlei, Mittwochstampfkartoffeln-mit-Sauerkraut-und-Bratwurst, Donnerstagreste, Freitagfische, Samstageintopf, Woche für Woche, Jahr für Jahr, Rhythmus, Fleiß und Wiederaufbauschweiß. Keiner hat nie etwas gewusst und jetzt war es ja vorbei. Als gäbe es eine Endgültigkeit, ein Ab-ins-Meer-und-weg-damit. Als gäbe es Teppiche fürs Drunterkehren, als wäre Schweigen stumm. Als hätten sie sich neu erschaffen können, den Göttern gleich. Als hätten sie das Ende und das Wie in ihren Händen gehalten.

In der Erinnerung spielt Kindheit mit nackten Beinen. Nackte Beine hüpfen in Hinkekästchen, schießen Bälle ins Tor, drehen Pirouetten auf Rollschuhen, tanzen Gummitwist, springen Seil. Nackte Arme lassen rote Bälle fliegen, hin und her. Hätte es nicht auch die roten St.-Martins-Äpfel gegeben, den vollen Schuh am Nikolausmorgen und die Kerzen am Weihnachtsabend, wären die Beine wohl immer nackt geblieben. Schmelzende Eiskugeln würden stetig auf Sonntagskleider tropfen und Deckenhöhlen auf Baumschatten stehen. Immer würde die Amsel singen, die Spatzen tschilpen, die Knie zerschunden sein. Eine Sommerkindheit.
Unbeschwert, unverdorben, unschuldig. Kindheit erkundete fremdes Land. Ferienzeit. Nackte Füße im Bergbach, Kieselsteine ertastend. Das Mädchen war Suleika, ein Jahr später Tom Sawyer, die Freundin Huckleberry Finn, im katholischen Mädchen-Ferienlagertheater im Allgäu.

Vanillepudding mit gezuckerten Johannisbeeren auf seinem Grund war die Mahlzeit im Freibad. Haare und Röcke wehten im kühlenden Wind auf rotem Fahrrad, auf dem Weg dorthin. Goldgelbe Getreidefelder standen am Rand, von Kamille, Kornblume und Klatschmohn weiß-rot-blau getüpfelt.
Unbeschwert. Unverdorben. Unschuldig. Viele Albernheiten, viel Lachen, Tränen auch. Eben. Nicht immer war Sonnenschein, nicht immer Sommer und schon gar nicht immer Ferienzeit. Anderes schob sich darunter.

Erinnerungen liegen nicht chronologisch in den Fächern. Am Anfang jedoch zogen weiße Wolken über Azur, Schwalben im Geleit. Lagerfeuer am Abend. Lauter Gesang, leises Gebet. Schwimmen im Fluss, im See, durch den Teich, das Becken, den Kanal. Zuerst waren viele Freunde und Freundinnen, gemeinsame Abenteuer, Streiche und Spiele.

Das Andere legte sich darunter. Leicht, leichter am leichtesten bildeten die Spitze, schwer, schwerer, am schwersten den Grund.

An den Sonnenscheintagen meiner Kindheit sammelte ich weiße Kieselsteinchen am Rhein, während Ausflugsdampfer tuteten und Wellen für die Wassertänzerinnen hinterließen. Menschen winkten und lachten. Blaue Libellen schwebten über Mondfalterbach. Schmetterlingsleichte Gedanken ließen sich nicht fangen. Kirschen prall und süß, bunte Blumenwiesen zu Kränzen geflochten.

Erinnerungen werden durch Gerüche geweckt. Ich denke an die zwei Eisdielen mit den zwei Düften. An die kleine, mit der uraltfaltigen Frau, sie roch nach kühler Milch mit Vanille. Die großdunkelschummerige nach Wärme, Vanille, Erdbeer und Zitrone. Eine dritte, die kam, als die Uraltfaltenmilchfrau gegangen war, roch modern – nach Plastikstühlen. Dort ging ich selten hinein.
Eine Kugel Eis ein Groschen, eine Straßenbahnfahrt fünf Pfennig, eine Karussellfahrt zwanzig oder fünfzig. Manches erinnert sich schlechter als anderes.
In den Gärten meiner Kindheit gab es Kartoffel- und Gemüsebeete, Erdbeeren, Hühner- und Kaninchenställe, lebten Tauben auf dem Dach des Gartenschuppens, flogen Mai- und Kartoffelkäfer, aber Sonnenschirme oder Hollywoodschaukeln standen dort nicht. Die waren den Reichen vorbehalten, wie die dicken Teppiche und Kricketrasen. Bei den Reichen wurden andere Spiele gespielt. Leisere. Gezähmtere. Nicht wirklich lustigere. Manchmal wurde ich eingeladen, von Unwohlsein begleitet. Dort gehörte ich nicht hin. Fremdsein.

Die Erinnerung beginnt mit dem Duft von Vanillezucker in kalter Milch. Sie wandert weiter zu den Deckenburgen, zu eisgekühlten Hagebuttentees mit Zitrone und Zucker, hin zum Klingeln des Eismanns, dem Lumpensammler mit seiner Flöte und dem Einmannorchester an der Ecke der kleinen Stadt. Zitroneneis und Wasser, Butterbrote mit Salz, Lakritzschnecken und Salmiakpastillen, zwei Kirschlutscher für einen Pfennig, ein Colalutscher für fünf. Aber kaum Berge, kein Meer, viel Wiese, kaum Mutter, viel Freundin und Freund. Viel Tante, Cousinen und Cousins, viel Lachen und immer Schmerz und Tränen, wenn es Nachhause ging.
Dasselbe Stampfen der Dampflokomotive begleitete abwechselnd das Leichteste und Schwerste. Hinein in die Ferienzeit, hinaus. Hinein. Hinaus. Hinein. Hinaus. Hinein. Hinaus.
Im Hinaus wohnten andere Freundinnen, andere Freunde. Im Hinein verschwanden Tom und Huck wieder hinter den Buchdeckeln, gesellten sich zu Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer, zu Inga, Lisa, Britta, Kerstin, Lasse, Bosse und Ole, zu den fünf Freunden und den sieben Fragezeichen, zu Trotzkopf und zu Hanni und Nanni ins Internat.

Ich frage nicht nach den Häusern, ob sie noch stehen oder nicht, ob sie neue Farben bekamen oder nicht. In meiner Erinnerung stehen sie unverwittert, vierstöckig mit grauer Fassade und ich werfe wieder rote Bälle an ihre Wände.

Wenn ich an Maiglöckchen rieche, habe ich wieder Geburtstag in Tantes Garten, violetter Fliederduft gesellt sich hinzu. Gärten und Häuser, die verschwanden oder auch nicht, sie alle hatten einen Keller, ihre Wände erkannten mich an meinem Pfeifen. Kartoffeln, Eingemachtes, Schlitten und Fahrräder überall, in manchen auch Kohlen und Feuersalamander, aber es gab nur einen für den ersten peinlich heimlichen Kuss.

Meine Generation lernte die Not aus den erzählten Geschichten, weit weg von uns und den immer voller werdenden Geschäften. Seelennot, die lernten wir auch, aber Hunger gab es nicht, wenn uns auch nicht alles schmeckte und das Brot, vor der Brust geschnitten, mit einem Segenskreuz verziert, täglich und selbstverständlich auf dem Esstisch lag. Unser Hunger hieß nicht Brot. Er hieß Leben, Liebe, Lust, Leidenschaft und Wahrheit. Abenteuer winkten überall, nur nicht in den Wohnzimmern voller Gummibäumen und anderem Gewächs. Nackte Füße steckten in Sandalen, ob es sich geziemte oder nicht. Röcke verloren ihre langen Säume, Wind fuhr durch offen getragene Haare, Bärte wuchsen, Kreuze mussten brennen.

Der Rhythmus des Rock’n Rolls lag schon bei meiner Geburt in der Luft, bewegte die Atmosphäre, veränderte Blickwinkel. Frauen zeigten ab den frühen 1960er Jahren Bein, Peter Kraus sang von Motorbienen, Rita Pavone: Wenn ich ein Junge wär. Andere sangen von Freiheit, Liebe und Frieden. Männer und Jungs posierten mit Schmalzlocke, Bluejeans und Lederjacke, auch wenn in meinem Zuhause zunächst noch das Ave Maria, deutsche Schlager, Heimatlieder und katholischer Kirchgang angesagt waren, sowie Röcke, die gleich über dem Knie zu enden hatten.

Mit Kindern und Jugendlichen wurde damals nicht viel geredet. Wir sollten glauben, nicht fragen. Wir sollten gehorchen, sonst nichts. Und ich war ein Mädchen, dann ein Fräulein (wie albern das doch klang und klingt!), dann eine junge Frau; ich hatte nichts über das Frausein gelernt, nichts was ich hätte gebrauchen können. Die Kittelschürze war nicht für mich.

Die Werte der Familie und der Kirche gehörten schnell nicht mehr zu mir, aber erst einmal sickerten sie ein. Sie rochen schlecht, sie schmeckten bitter. Ich fragte, ich rebellierte, ich las, ich verließ das Haus.

Niemand hatte mit mir je über Liebe, Lust und Leidenschaft gesprochen. Aber die Sünde und die sündigen Leiber waren in aller Munde, so, wie die Huren und die Gosse, das billige Flittchen, das Fegefeuer und die Hölle. Der erhobene Zeigefinger richtete sich gegen mich. Lange wollte ich ein Junge sein!

Das Kreuz war massiv. Das Kreuz hieß Frau, hieß Sünde, Todsünde, Erbsünde, Eva und der Apfel, hieß Schuld, hieß sündiger Leib. Und dann erwachten mein Körper und die Lust. Nur schon meinen nackten Körper im Spiegel zu betrachten war eine Todsünde, hieß Fegefeuer und ab dafür. Wenn ich Lust hatte, mich nackt im Spiegel zu betrachten, wenn ich Spaß daran hatte mich zu berühren, galt dasselbe. Sünde, Sünde, hundert Jahre in der Hölle schmoren. So hatten sie es mir beigebracht. Das war meine Geißelung.

Der liebe Gott, von mir auf die Probe gestellt, verlor mit den fortschreitenden Jahren immer öfter, der Heilige Geist war eine Enttäuschung.

Ich war verwirrt. Ich wollte das Reh sein, aber ich war ein rasender Stier im Schildkrötenkostüm.

Mutter und ich waren weitergezogen. Kein Bahndamm, keine fünfzig Kinder, kein Vater, kein Großvater und keine Großmutter mehr und der große Bruder schon längst in der weiten Welt unterwegs, da blieben nur noch Zwei. Schon länger hatten wir uns nichts mehr zu sagen, Mutter und ich.

Das Bahndammkellerkind wurde zur Straßengöre, aber die Straße kannte kein Pardon.

Ich verbrannte mich. Ich wurde das Flittchen. Später kamen andere, die es ernst mit mir meinten, ich erkannte sie nicht, aber ich nahm ihre Hände. Ich war nicht mehr allein und hatte mein kostbarstes Gut doch schon längst verloren.

Ich lief durch die Welt, klein, dick, dumm, hässlich, weder richtig, noch liebenswert. Wir hatten viel zu tun, die Freundinnen, ich und mein Schutzengel. Der war mir geblieben, wenn auch ohne Flügel.

Ich habe solange an Mimosen und Rosen gerochen, bis der Gestank verflogen war. Die bittere Galle habe ich ausgekotzt. Ich baute mir ein neues Haus und manchmal fand meine Stummheit einen Trost.

Lange nicht alles war zerbrochen, lange nicht alles war beschmutzt, in mir keimte ein Lotus. Die Leidenschaft nahm sich ihren Raum.

Dann brannten die Kreuze. Lichterloh.

für Margarete

Für die Impulswerkstatt von Myriade

Myriades Impuls

Nummer drei soll meine Nummer eins sein.

Zu jedem der eingestellten Bilder von Myriade fiel mir gleich ein bildliches Pendant ein. Das ist das eine, das andere ist der heutige Beitrag von Gerda und ihren Arbeiten zu dem Doppelgesicht.

Jede und jeder ist Viele, in uns wohnen viele Anteile, das Kind, die Jugendliche, die Heranwachsende, die Mutter, die Lehrende, die Lernende, die Ängstliche neben der Mutigen, die Wilde neben der Schüchternen, die Närrin neben der Miesmacherin … mein Boot hat viel Passagiere.

Sehr verbunden bin ich mit meinem inneren Mädchen. Vor einigen Jahren gestaltete ich ein Bild von uns Zwei.

Unsere Ahnen leben in uns weiter – im Guten, wie im Schlechten – und sind weitere Anteile, die in uns leben.

Meine Großmutter und ich

Die Bilder wie wir gerne wären, versus wer und wie wir sind.

Eine Vision von mir im Alter:

anklick = große Bilder – please click to enlarge

Etüde 04 2021

Neue Runde, neues Schreibeglück. Christiane hat wieder eingeladen, die Wortspende ist dieses Mal von Berlinautor. Vielen Dank euch beiden!

Die Etüde muss die 3 Wörter: Klassenkeile, schwammig und trödeln beinhalten und darf nicht mehr als 300 Wörter beinhalten.

Mehr zu den Regeln kannst du bei Interesse auf Christianes Seite lesen (s. Link oben).


Triggerwarnung: Es geht in dieser Etüde um Gewalt.


Viele gegen Eine*n. Treten, schlagen, boxen, spucken.

Immer weiter treten, schlagen, boxen, spucken. Blut. Das erste.

Verhöhnen, erniedrigen, weiter treten, schlagen, boxen, spucken. Mehr Blut.

Weiter treten, schlagen, boxen, spucken. Bis.

Dummheit gegen Schwächere.

Zuerst die Klassenkeile,

dann die Gangs.

Vorbei trödelnde Menschen haben nichts gesehen. Nie.

Schwammige Antworten.

Keine Antworten.

 

51 Wörter


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Hundstage oder zweites Pausenzeichen

Da bleibt nur eins – ab ins Wasser

und dann ab auf die Rutsche, ob auf dem Rücken oder dem Bauch –

ein ganz großer Spaß!

draufklick = große Bilder

Manchmal bedauere ich, dass ich die Kinder zu den Puppen nicht zeigen kann – ich vertraue darauf, dass ihr die lachenden und leuchtenden Kindergesichter in diesen Bildern seht!

Herzliche Sommergrüße!


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Erinnerungsschaukel 07

 

V A T E R

1.

Als ich noch sehr klein gewesen bin, fuhr ich mit der Mutter den Vater besuchen. Wir kamen in ein fremdes Land. Dort gab es ein Meer, Sand, Felsen und einen roten Ball. Das Meer holte sich den roten Ball. Das Land den Vater.

2.

Als ich jung war, trieb mich eine diffuse Todessehnsucht. Ich war die Steppenwölfin. Ich trank billigen Weinbrand, den ich Cognac schrieb. Ich saß in Spelunken. Nur schreibend war ich mir nah.

Langsam nur lernte ich den Lebenden näher als den Toten zu sein.

3.

Der Alptraum hieß „nie-mehr“. Nie mehr würde Vater König wiederkommen. Ich fiel ins Dunkeltal und schwieg. Mit viereinhalb Jahren war ich Inanna gleich. Nackt hing ich am Haken. Meine Retterin war nicht die Dienerin, ich nannte sie Oma.

4.

Als ich durch Bilbao fuhr, war ich fünfunddreißig Jahre alt. Ich suchte noch immer deine Gestalt hinter den Palmen, erkannte aber nur einen Brunnen. Ich suchte dich in jedem Mann. Der an meiner Seite war es nicht. Mir warst du König. Ich war deine Prinzessin. Du trugst mich auf Händen, bis sie nichts mehr tragen konnten.

5.

Der Vater ist tot, Opa und Oma auch. Aber nur einmal bin ich Inanna* gewesen.

2016


* https://de.wikipedia.org/wiki/Inanna


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Erinnerungsschaukel 05

 

K I N D E R T A G E  Z W I S C H E N  P O T T  U N D  W E S T F A L E N

Sechs Kinderbeine mit herunter gerutschten Kniestrümpfen rennen aus der Siedlung hinaus den Bergen entgegen. Es rennen zwei Jungs und ein Mädchen. Abenteueralter. Sie sind Tom Sawyer und Huckleberry, sind Nscho-tschi und Old Shatterhand, sind was sie wollen, auf alle Fälle kleine Strolche.

Die Berge sind wild, zwischen ihnen gähnen wassergefüllte Abgründe. Frösche quaken. Jungs fangen Frösche, sie sieht sich um. Frösche werden nun einmal nicht zu Prinzen, wenn man sie aufbläst. Außerdem ist das eklig! Sie läuft weg von den Jungen und ihrem Ekelspiel, sie will das nie mehr sehen. Sie klettert auf die Höhen, rennt durch die Senken, nimmt die letzten Felsen, sie schaut von oben auf den Rhein-Herne-Kanal hinab. Schiffe ziehen Frieden, machen Wellen.

Die Familie ist umgezogen. Die Zechen sind jetzt weiter weg, der Garten kleiner, einen Innenhof gibt es nicht mehr. Auch keine zwei Schweine mehr im Stall, die an roten Kinderpantoffeln knabbern wollen, keine Hasen, keine Hühner mehr, nur die Tauben sind geblieben und Wellensittich Peterlieb. Noch. Er wird einen Hinausflug machen. Bald. Aber das weiß keiner. Keiner weiß, dass er für eine lange Weile aus dem Fenster hinaus, in die weite Welt hineinfliegen und mit dem knallgelben Kanari zurückkommen wird. Das ist Peterliebs Geheimnis. Er wird es auflösen, später …

Die Familie heißt …lewski, so, wie viele Familiennamen hier auf lewski, lawski, lowski enden. Viele sind Anfang der Neunzehnhunderterjahre von Polen in den wachsenden Pott gekommen, um das schwarze Gold aus der Erde zu puhlen. Das schwarze Gold, das seinen Wert verlor. Zechen schlossen, Kulturlandschaften wuchsen, Kohlepfennige wischten Augen. Die Law-lew-lowskis rauchten, husteten, fütterten gurrend ihre Tauben. Kinder schwammen in den Wellen der vorbeiziehenden Frachtschiffe, fuhren auf zu großen Fahrrädern und fielen sich schwarze Schlackesteinchen in die Knie. Rabe Jakob saß auf dem Dachfirst, schob seinen Kopf vor und zurück, ganz so, wie es Raben tun, wenn sie etwas mitzuteilen haben, sei es nun rrabrrab oder Jaa – kobb … Jaa – kobb. Raben, die raben, hacken nicht, eine polnische Weisheit, sagte die Tante.

Die Tante, klein, rundlich, Tag für Tag in einer geblümten Kittelschürze steckend, mit dem Namen der sich schöner und vielversprechender nicht auf Märchen reimen konnte, besonders in Gewitterstunden. Ach, Tante Klärchen …

Die Berge hatte es vor dem Umzug nicht gegeben. Nicht in Ickern. Da gab es Dötze und Mehler zu verhandeln, zu tauschen, zu verlieren und zu gewinnen, drinnen, wie draußen. Da gab es in der Nacht einen Pinkelpott für die ganze Familie und am Samstag war Badetag. Und einmal im Monat gab es eine Butterfahrt. Für die Tante. Butterfahrten von Ickern auf die zollfreien Gewässer zwischen Deutschland und Holland. Butterfahrten von Waltrop aus schlossen sich an. Kanäle gestalteten Landschaften, hier, wie dort. Der frische Wind wehte Riesenlollis in gierig aufgesperrte Kindermünder, und die gute Butter für die Pellkartoffeln, den Brathering und die sauren Gurken auf den Tisch. Nein, keine Sauregurkenzeit. Schlichtheit, Ruhrpottmentalität.

Es knatterte noch der Onkel mit dem Moped in den frühen Morgenstunden der entfernten Zeche entgegen, knatterte am frühen Nachmittag zurück. Am Abend stopfte er Zigaretten für das Morgen. Peterlieb saß auf der Schulter der Tante und zeterte: Peterlieb, Peterlieb … Lachen.

Die Tante verriet den Kindern Verstecke für sie und ihre mit geklauten Äpfeln prall gefüllten Säcke, der Bauer entdeckte sie trotzdem. Aufsitzen mussten sie. Sie und die Säcke auf dem Treckerhänger. Er kannte die Tante, kannte die Kinder, er machte ein böses Gesicht, lenkte den Trecker über die Höhen und Tiefe der Berge hin zur Siedlung. Als Peterlieb das sah, machte er sein Geheimnis wahr und flog geradewegs, für eine lange Weile, aus dem Fenster hinaus, den knallgelben Kanari zu finden.

Am Ende haben alle Äpfel gegessen.

2018/19

Erschienen in der Anthologie: All over Heimat


Nur noch einmal zur Erinnerung (huch schon wieder eine), alle diese Texte, die ich hier einstelle, schrieb ich vor einigen Jahren und stellte diese hier auch schon ein, so kann es sein, dass ältere Leser*innen diese schon kennen. Ich mache dies für mich und die neuen Leser*innen, vielleicht wird ja doch noch einmal ein Buch daraus. Diese Idee wabert auf alle Fälle im Hintergrund dabei herum.


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Erinnerungsschaukel 003

G E S T E R N  U N D  H E U T E, D A S  J E T Z T  A U C H  S C H O N  W I E D E R  G E S T E R N  I S T

Als ob es so muss, dass plötzlich nur noch Erinnerungen zählen, in der sie Gesicht und Worte einfordern und dabei jedes Jetzt überlagern, mich nicht wissen lassen, was ich gestern tat, dafür umso besser, was vor dreißig Jahren. Dass Erinnerungen ihre Türen und Fenster öffnen und Damalswinde Jetzträume durchwehen, mit Gerüchen, die alt erscheinen und gleichzeitig wohlbekannt. Nicht immer wohlig, nicht immer benannt in ihrem Duft, weil ein Erinnerungsduft sich zusammensetzt aus Kohlen im Keller, Kartoffeln, Feuersalamandern und meiner Angst.

Die Angst, die ich versuchte weg zu pfeifen. Ein schiefes Lied gegen das laute Pochen in meiner Brust. Dort, allein im Keller mit seinen vielen Winkeln und Verschlägen, seinen Kohlen, Kartoffeln und Feuersalamandern, um etwas zu holen, das Mutter brauchte.

Die Gläser mit Eingemachten zählen nicht, geruchlos standen sie in Reih und Glied auf den Bretterregalen, die sich gefährlich bogen. Vielleicht roch noch das rote Gummi, das alles verschloss. Aber so wirklich interessierten sie nicht. Auch nicht heute, nicht in diesem Keller. Später, in einem anderen Keller ohne Winkel und Verschläge, ohne Kartoffeln, Kohlen und Salamandern lockten die Birnen. Da war ich nächtliche Mundräuberin, riss an den Gummis, aß ganze Gläser leer. Ich rieche sie noch.

Aber jetzt will ich keine alten Orte aufsuchen, will nicht auf meinen Spuren wandern, will neue in den Sand vor mir setzen. Ich weiß vom Wind, der sie zerweht, ob früher oder später. Viele hat er schon mitgenommen. Meine Füße hinterlassen keine Abdrücke in Stein und das, was damals war, ist in mir. Die Häuser, ob sie noch stehen oder nicht, ob sie neue Farben bekamen oder nicht, bedeuten mir nichts. Sie stehen dort vierstöckig mit grauer Fassade, ich werfe rote Bälle an ihre Wände und will nicht mehr dorthin zurück. Keinen Weg von damals will ich noch einmal gehen.

Ich rieche an Maiglöckchen und habe wieder Geburtstag in Tantes Garten. Gärten und Häuser, die verschwanden, aber nicht in mir. Sie alle hatten einen Keller und alle ihre Wände erkannten mich an meinem Pfeifen. Kartoffeln und Kohlen überall. Feuersalamander nicht. Eingemachtes schon. Ich erkenne sie an ihrem Geruch. Er wohnt noch in den Ganglien.

Wir lernten die Not aus den erzählten Geschichten, weit weg von uns und den immer voller werdenden Geschäften. Seelennot, die lernten wir auch, aber Hunger gab es nicht, wenn uns auch nicht alles schmeckte und das Brot, vor der Brust geschnitten, mit einem Segenskreuz verziert, täglich und selbstverständlich auf dem Esstisch lag. Unser Hunger hieß nicht Brot. Er hieß Leben, Liebe, Lust, Leidenschaft und Wahrheit. Abenteuer winkten überall, nur nicht in den Wohnzimmern voller Gummibäumen und anderem Gewächs. Kittelschürze war nicht unser Kleid, nackte Füße steckten in Sandalen, ob es sich geziemte oder nicht. Röcke verloren ihre langen Säume, Wind fuhr durch offen getragene Haare, Bärte wuchsen, Kreuze brannten.

Daher kommen wir. Zeiten, die jetzt von dem einen und der anderen aufs Papier gebannt werden, die ich lese, die meine Erinnerungsräume öffnen, die Spiegel der Zeit sind und vielleicht die eine und andere Spur zu sich selbst, warum man wurde, was man ist und vielleicht noch werden kann.

Ich verschließe Türen und Fenster, fege Spinnweben von altersschwachen Erinnerungswänden, streiche weiße Farbe über alte Bilder, die am Ende nichts verbirgt.

Als ob es müsste, weil man es so sagt, als hätte Alter kein Jetzt und als bliebe kein anderer Weg. Als müsste ich schon satt sein und mich nur noch an den alten Wegen laben, ihren Brotkrumen darauf. Ein Krückstock sagt noch nichts über die Augen! Das Neu hat immer auch das Alte im Gepäck.

Juli 2015


Nur noch einmal zur Erinnerung (huch schon wieder eine), alle diese Texte, die ich hier einstelle, schrieb ich vor einigen Jahren und stellte diese hier auch schon ein, so kann es sein, dass ältere Leser*innen diese schon kennen. Ich mache dies für mich und die neuen Leser*innen, vielleicht wird ja doch noch einmal ein Buch daraus. Diese Idee wabert auf alle Fälle im Hintergrund dabei herum.


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Erinnerungsschaukel 002

E R S T E  E R I N N E R U N G E N  H A B E N  N A C K T E  B E I N E

Das Mädchen lebte ihre Welt. Tom Sawyer, der dicke Neger Jim, der Mississippi und die Raddampfer, die alte Tante Bessy und Huckleberry Finn waren ihr Land und ihr Volk. Das Land der jungen Träume, wo alles geschah, wie es geschehen sollte. Damals.
Heute ist anders. Ist auch nicht mehr jung. Und doch – irgendwo lebt noch immer das Mädchen. Tanzen nackte Beine mit dem Wasser im Bach, einen Walzer im Bett.

Eine Wohnung unter dem Dach. Eine schlaflose Nacht. Die Hitze des Tages stand noch in den Räumen. Schweiß und Worte rannen aufs Papier. Nur am Tag fand sich Kühle am Teich. Vergangene Kindheitsträume lebten auf. Planschender Weise.
In der Nacht tanzten Schattenfüße über die Wände. Schrieb sich das damalige Jetzt. Über Freund W. zum Beispiel, der von roten Kugeln träumte, wenn er in der Sonne schlief. Vom Sirren der Mücken auch. Über Mottenflügel, die sich an Kerzen verbrannten. Das gestrige Jetzt ins Heute gewebt. Manches bleibt, verändert sich nicht.

Rekordhitzewochen – ein Damals. Man sprach noch nicht von historischen Begebenheiten. Nicht vom Klimawandel. Damals … noch nicht. Von Rekorden schon. Sechs, sieben Wochen lang kein Regen. Nur Hitze. Auch kein Gewitter. Sechs, sieben Wochen Badeteich am Tag, Gedankenfluss und Wortschöpfungen am Abend. Mondfalterbach zum Beispiel. Raddampfer pflügten durch Flusswasser, weiße Sandbänke gesellten sich hinzu, Ozeane und farbige Fischer. Steppen, Wüsten, Eisbären und Pinguine, Bazare im Orient, Wasserfälle und Rentiere, Iglus, Jurten, Tipis standen neben Wolkenkratzern. Highways zogen von hier nach dort. Rote Beeren löschten Durst. Wind kühlte heiße Stirn. Erste Weitsicht grub sich durch schlaflose Hitzenächte ins junge Sein.

Jahre kamen und gingen. Mal mehr, mal weniger Sonnenschein und Badeseen.

In der Erinnerung spielt Kindheit mit nackten Beinen am Badestrand. Nackte Beine hüpfen in Hinkekästchen, schießen Bälle ins Tor, drehen Pirouetten auf Rollschuhen, tanzen Gummitwist. Nackte Arme lassen rote Bälle fliegen. Hin und her. Einen fing das Meer.
Hätte es nicht auch die roten St.-Martins-Äpfelchen gegeben, den vollen Schuh am Nikolausmorgen und die Kerzen am Weihnachtsabend, wären die Beine wohl immer nackt geblieben. Schmelzende Eiskugeln würden stetig auf Sonntagskleider tropfen und Deckenhöhlen auf Baumschatten stehen. Immer würde die Amsel singen, die Spatzen tschülpen, die Knie zerschunden sein. Eine glückliche Kindheit. Vielleicht.
Unbeschwert, unverdorben, unschuldig – das auf jeden Fall. Kindheit erkundete fremdes Land. Ferienzeit. Nackte Füße im Bergbach, Kieselsteine ertastend. Das Mädchen war Tom Sawyer, die Freundin Huckleberry Finn, im Ferienlagertheater.

Vanillepudding mit Johannisbeeren auf seinem Grund. Haare und Röcke wehen im kühlenden Wind auf rotem Fahrrad. Goldgelbe Getreidefelder stehen am Rand.
Unbeschwert. Unverdorben. Unschuldig. Viele Albernheiten. Viel Lachen. Tränen auch. Eben. Nicht immer war Sonnenschein. Nicht immer Ferienzeit. Anderes schob sich darunter.

Erinnerungen liegen nicht chronologisch in den Fächern. Am Anfang jedoch, ziehen immer weiße Wolken über Azur, Schwalben im Geleit. Lagerfeuer am Abend. Lauter Gesang, leises Gebet. Schwimmen im Fluss, im See, durch den Teich, das Becken, den Kanal. Zuerst ist immer Freundschaft, die gemeinsamen Abenteuer, Streiche und Spiele.

Das Andere legte sich darunter. Leicht, leichter am leichtesten bilden die Spitze, schwer, schwerer, am schwersten den Grund.

Heute, an einem der wechselhaften Apriltage des Jetzt, nimmt die Frau ihr Mädchen an die Hand. Gemeinsam wandern sie durch die Sonnenscheintage ihres Seins. Wieder sammeln sie weiße Kieselsteinchen. Mohnblüten, Kornblumen und Kamille tüpfeln ihr Rot, Blau, Gelb und Weiß an den grüngelben Rand. Ausflugsdampfer tuten. Hinterlassen Wellen für die Wassertänzerinnen. Menschen winken und lachen. Blaue Libellen schweben über Mondfalterbach. Schmetterlingsleichte Gedanken lassen sich nicht fangen. Kirschen prall und süß, bunte Blumenwiesen zu Kränzen geflochten.

Gerüche von damals wehen herein. Zwei Eisdielen, zwei Düfte. Die kleine, mit der uraltfaltigen Frau roch nach kühler Milch. Die großdunkelschummerige nach Wärme, Vanille und Zitrone. Eine dritte, die kam, als die Uraltfaltenmilchfrau gegangen war, roch modern – nach Plastikstühlen. Dort ging das Mädchen nicht hinein.
Eine Kugel Eis ein Groschen. Eine Straßenbahnfahrt fünf Pfennig. Eine Karusselfahrt zwanzig oder fünfzig. Manches erinnert sich schlechter als anderes. Weil das Mädchen nie an Geld riechen mochte? Vielleicht.
In den Gärten des Mädchens standen keine Sonnenschirme und Hollywoodschaukeln. Die waren den Reichen vorbehalten. Wie die dicken Teppiche und Kricketrasen auch. Hier wurden andere Spiele gespielt. Leisere. Gezähmtere. Nicht wirklich lustigere. Nicht ihre Welt. Nur manchmal hinein geladen, von Unwohlsein begleitet.

Die Erinnerung beginnt mit dem Duft von warmer Vanille über kühler Milch. Wandert weiter zu den Deckenburgen, zu eisgekühlten Hagebuttentees mit Zitrone und Zucker, hin zum Klingeln des Eismanns an einem anderen Ort. Eis und Wasser. Butterbrote mit gesalzenen Gurkenscheiben. Kaum Berge. Viel Wiese. Kaum Mutter. Viel Freundin und Freund. Viel Tante, Cousinen und Cousins. Viel Lachen. Und immer Schmerz, wenn es Nachhause ging.
Dasselbe Stampfen der Dampflokomotive begleitete abwechselnd das Leichteste und Schwerste. Hinein in die Ferienzeit, hinaus. Hinein. Hinaus. Hinein. Hinaus.
Im Hinaus wohnten andere Freundinnen, andere Freunde. Im Hinein verschwanden Tom und Huck wieder hinter den Buchdeckeln, gesellten sich zu Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer. Zu Inga, Lisa, Britta, Kerstin, Lasse, Bosse und Ole, zu den fünf Freunden und den sieben Fragezeichen. Zu Hanni und Nanni ins Internat.
Kürzer werdende Tage. Die Mädchenbeine sind nun wieder von Kniestrümpfen umhüllt, später von verhassten Wollkratzstrumpfhosen.
Die Sehnsucht heißt nackte Beine im Wind. Damals wie heute. Nackte Füße im Bach. Träge in Grünwiesen liegen, blaue Libellenflüge betrachten, abends am Mondfalterbach das Feuer anzünden.
Das Mädchen hat sich vom Gestern ins Heute hinüber gerettet. Wohlbehütet von der Frau. Tropfende Eisschmelze auf Baumwollblusen, nackte Füße in eiskalten Bächen, nackte Beine vom Wind umspielt.

In den ersten Erinnerungen tanzen nackte Füße und Beine im Bach, ziehen weiße Wolken über Azur, Schwalben im Geleit.

21.06.2012

Erinnerungsschaukel 001

Meine dritte Etüde hat mich auf die Idee gebracht, Texte, die von meinen Erinnerungen getragen werden, unter der Überschrift  E R I N N E R U N G S S C H A U K E L noch einmal hier einzustellen. Neue werden vielleicht geschrieben.

Das oben stehende Bild wird das „Cover“ sein.

Manche Texte erschienen schon einmal in den Rubriken „Kurze Zeilen“ und „Miniaturen“. Andere, längere erschienen unter einer Überschrift, sie hatten keine Rubrik.

Nicht alle Erinnerungen sind so still und schön, wie die in meiner Etüde. Meine Kindheit war weder nur schön, noch nur schwer und dem versuche ich in der Erinnerungsschaukel Rechnung zu tragen.

O C H S E N B E R G E R  E I N S  Z W E I  D R E I

Es waren Murmelspiele, Hinkekästchen, wilde Jagden, Ochsenberger-eins-zwei-drei, Mutter-Mutter-wie-weit-darf-ich-reisen, Vater-Mutter-Kind.

Viele Mütter, viele Väter, viele Kinder, ehrliches Brot, gesunder Stolz und am Samstag großes Reinemachen. Der Sonntag- und der Satansbraten, Montagsnudeln, Dienstagseinerlei, Mittwochsstampfkartoffeln-mit-Sauerkraut-und-Bratwurst, Donnerstagsreste, Freitagsfische, Samstagseintopf, Woche für Woche. Jahr für Jahr Rhythmus, Fleiß und Wiederaufbauschweiß. Keiner hat nie etwas gewusst und jetzt war es ja vorbei. Als gäbe es eine Endgültigkeit, ein Ab-ins-Meer-damit-und-weg-ist-es. Als gäbe es Teppiche fürs Drunterkehren, als wäre Schweigen stumm. Als könnten wir uns neu erschaffen, den Göttern gleich. Als hielten wir das Ende und das Wie in unseren Händen.

26.06.2016


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