Gedankenfäden 005

RoteFadenGeschichte 021

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Gedankenfäden 005

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Heute Morgen ist etwas mit den Raben. Sie krächzen und krächzen. Alle anderen Vögel sind verstummt. Der Nebel wird immer dichter. Es fällt mir schwer nicht an dich zu denken. Heute kommst du zurück. Nebelgrauer Willkommensgruß. Alles Verdrängte, alles Nichterledigte, Nichtsausgesprochene wird wieder auf dich einstürzen.

An manchen Tagen möchte ich kein Holz holen müssen. Heute ist so ein Tag. Heute wäre ich gerne eine Seerose. Rein und weiß bin ich dem Teichschlamm entwachsen. Ich lasse mich von den leisen Windteichwellen wiegen, der Schönheit zuliebe. Es gibt Windbrunnen, die hat das Schilf gebaut. Du würdest mich wieder nicht erkennen.

Den tiefen Stachel will ich ziehen. Die alte Haut fällt in Schuppen ab, ich kann ihn jetzt sehen, kann ihn mit einer Pinzette ergreifen, ein Ruck und er ist raus. Ein Tropfen dunkelroten Blutes ist das Opfer für die neue Haut. Ich warte nicht, bis sich die Wunde entzündet, ich lecke sie. Meine Zärtlichkeit ist mein Pflaster. Als mein Vater nehme ich mich in den Arm, ich rieche an seiner Männerbrust, die nach Tabak und Waldharz riecht. Seine große Hand streichelt leise meine neue Haut.

Wenn ich groß bin, sagt meine Kleine, dann heirate ich dich. Er wirft mich lachend in die Luft, ich fliege, ich juchze, ich habe keine Angst, er wird mich wieder auffangen, wieder und wieder.

Die Freundin sagt, wie traurig das alles ist. Ich liebe sie. So, wie man eine Freundin liebt.

Die Zeit der Prinzen und Johnnys ist vorbei. Eine Prinzessin bin ich nie gewesen, auch wenn ich eine Erbse, unter zehn Matrazen begraben, erspüre. Ich kam als kleine Kaiserin zur Welt. Damals, vor elf Jahren. Oh ja, die kleine Kaiserin ist prächtig gewachsen. Sie wächst sich selbst entgegen. Die alte Buche ist unsere Zeugin. Sie braucht kein Land, kein Volk, die sie „ihres“ nennen müsste. Sie verschenkt sich, sie nimmt die Geschenke vom Wegesrand, sie wandert ihrer Einheit entgegen. Sie spiegelt sich in den Seerosenteichen, hinter ihr erblüht das Land. Sie wird nicht müde Blumensamen in die Lüfte zu werfen und mit nackten Füßen in Bergbächen zu tanzen, ihr Lied mit den Vögeln zu singen. Am Ende wird sie Liebe geworden sein. Das hat sie von der Fährfau gelernt, von ihrem unermüdlichem Vor und Zurück.

Ich bin Anna – Hannah – Lucie, die kleine Kaiserin aus dem Land ÜberAll-im-IrgendWo – ich bin die kleine blaue Frau – ich bin.

Ein Gefühl wie ein Gemälde: links von mir ist eine alte, dicke Mauer – weiß gekälkt, ein Fenster ist darin, das offen steht. Sein Flügel weist nach draußen, er ist festgehakt, gegen den Wind. Eine weiße Chiffongardine bauscht sich hinein, hinaus. Es ist ein Turm – es ist ein Haus – es wellt ein Meer vor dem Fenster, vor und zurück. Ich sitze schräg davon, ich kämme mein langes rotblondes Haar, nicht alt, nicht jung, ein Ist im Sein, ein Gemälde wie ein Gefühl.

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RoteFadenGeschichten sind Gedankenfäden, Gedankenfäden sind RoteFadenGeschichten, sie schreiben sich fort, mit und ohne Bilder, mit und ohne Worte. Sie sind keine blauen Stunden und auch keine Momentaufnahmen, auch wenn heute immer gerade jetzt ist; der Moment in dem die Raben krächzen oder wie gerade jetzt der Nebel nach oben steigt, die Sonne die ersten Schatten des Tages an die Wand wirft.

Sie sind Geschichten des VorundZurücks, der Ankünfte und Abschiede, der Bahnhöfe und Flughäfen, der Kaimauern und Leuchttürme, der Schwäne und der Nebelhörner. Es sind Geschichten von der Aufrichtung in Aufrichtigkeit mit närrischen Kapriolen. Es sind die Geschichten von den Zwillingsbäumen und der Moosfrau, von singenden Steinen und von Sternenstaub im weiß gewordenem Haar. Sie sind Tanz in jeder Form.



P.S. Heute haben sich verschiedene Kategorien und Geschichten aus der Vergangenheit in die Gedankenfäden geflochten, es sind die

  • Momentaufnahmen
  • blaue Stunden
  • die kleine blaue Frau

bei Interesse kannst du diese Begriffe in die Suchmaschine eingeben. Anderes, wie Lucie, die kleine Kaiserin, liegt noch immer als zweiter Kinderbuchentwurf in der Schublade.

37 Gedanken zu „Gedankenfäden 005

  1. Versponnenes Hell und Dunkel, Kühl und Warm, Scharf und Sanft. Wunderlich poetische Prosa, die mich nicht mehr gehen lässt, wenn ich einmal zu lesen begonnen habe.
    Und dazu diese Bild aus Herbst und Vitalität! Es macht mir Freude.
    Ule

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    • Wieschade, liebe Marie, aber es hakt und öst auch Zurzeit hier, gerade habe ich wieder festgestellt, dass der Beitrag nicht im reader erschienen ist, da musste ich wieder fummeln – und nun ist dein langer Kommentar weg, ach menno. Aber nun freue ich mich einfach an deinen so schönem Kompliment.
      Herzliebe Grüße am Abend an dich
      Ulli

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  2. Liebe Ulli, diesen Text habe ich mir wieder in meinen stillgelegten Blog geholt, in dem nur noch ich lese. Ich möchte ihn, wie auch noch andere Zeilen von Dir, sofort für mich greifbar haben, wenn mich danach verlangt. Deine Worte haben sehr oft eine starke Sogwirkung auf mich; ich bewundere Dich für Dein so schreiben Können.
    Sei bedankt dafür und herzlich von mir gegrüßt, Karin

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  3. Die Fadenfotos gefallen mir sehr! Es ist als sähe ich darin das OM Zeichen…
    Bei diesem Bild sehe ich in der Mitte einen Kokon. Das ist ein schönes ermutigendes Symbol!

    Liebe Grüße,
    Syntaxia

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  4. Ein Gefühl wie ein Gemälde
    Diesen Satz pickte ich mir einfach aus Deinem Text, weil er zu schön ist.
    In einem Gemälde kann so vieles sein und bei Dir lese ich von wehenden Gardinen, die sich im Wind bauschen, offene Fenster, die hereinbitten, denn nicht jeder Gedanke kommt durch die Tür und nicht immer sind es Menschen, die um Einlass bitten, da ist ja auch die Fantasie und sie ist gerne bei Dir, bei Dir fühlt sie sich aufgehoben und verstanden. Da gibt es keine Mißtöne und kein Zurückweichen, denn es geht weiter, es geht aufwärts
    Herzlichst, Bruni, die zwar die Sonne genießt, aber da ist etwas wie eine Unlust, eine Ängslichkeit. Da tut Dein Text sehr gut, lieber Ulli

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    • Liebe Bruni, das tut mir leid, dass du eine Unlust, eine Ängstlichkeit spürst, damöchte ich dir gerne Mut machen näher hinzuschauen, bei dir und diesem Gefühl zu bleiben, damit du es zu fassen bekommst und dann verwandeln kannst.
      Herzlichen Dank für deinen Kommentar zu meinem Traumbild.
      Liebe Grüße
      Ulli

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    • ja, manchmal ist es tricky!
      Da wünsche ich dir Geduld und Zuversicht, Vertrauen und Hingabe … zu vieles Wollen und Machen und Schauen führt dann manchmal auch zu nix …
      ganz liebe Grüße durch die Nacht an dich,
      Ulli

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