Wellen kamen und gingen, sie brachten Frieden, Trauer, Freude, Erinnerungen und Verbundenheit. Wogen schlugen gegen Felswände, sie kamen aus den Tiefen des Uns. Weit weg im Nah, nah im Weit, Menschenleben, Zerbrechlichkeit. Tausend Haarwurzeln von Stamm und Baum – Geborgenheit. Seitenbrüche, Nebenzweige, ich bin geblieben, ich halte den Stamm.
Frühsommerliche Winde hatten den roten Faden empor gehoben, ihn mit sich getragen, ihn hierhin und dorthin geweht, stets um den mäandernden Bach herum. Das Mädesüß war an seinem Ufer hoch gewachsen, Bachgräser hatten sich gewiegt, spärlicher war das Wasser geflossen. Aus ungestümen Vorwärtsrauschen war seichtes Geplätscher geworden, Stürme und Frohlockungen wandelten sich in stete, leise Emsigkeit, Rosen knospten, blühten und verwelkten, ihre Blütenblätter sprenkelten Sommerwege, darüber ist es Herbst geworden, letzte Rosen blühen.
Da ist er, der Nagel in der Wand und der rote Faden spannt sich nach rechts und nach links und jetzt … wo wird er enden? Gehe ich nach rechts? Gehe ich nach links? Oder verharre ich in der Mitte? Wo ist nur die Mündung? Ich irre durch’s Dickicht. Was mal einfach erschien, ist jetzt ein Stolpergang. Berge rauf und runter, keine Machete für’s Dickicht.
Mitte Mai und noch immer Feuer im Ofen, wenigstens am Abend, auch am frühen Morgen. Die Kartoffeln sind jetzt in der Erde, der Knoblauch ist gesteckt, Salat gepflanzt, die Sonnenblumen auch, die Kräuterbeete sind gehackt. Ich staune über die vielen Ringel- und Kornblumen, die Schlafmützchen auch, die sich seit dem letzten Jahr selbst ausgesät haben. Die Tomatenpflanzen trage ich am Morgen auf die Terasse, am Abend wieder in die Stube, der Mond ist fast voll.
Nachher werde ich noch weiter in der Erde wühlen, werde säen und gießen, werde mit dem Haushängebauchschwein schwatzen, weil es immer an den Zaun kommt, wenn ich werkel. Sie liebt Löwenzahn, sie wird Löwenzahn bekommen! Die Ziegen kommen auch und schauen neugierig durch die Maschen, es wird Zeit, dass sie auf die Sommerweide kommen, hier haben sie nahezu alles abgegrast. Bald. Der Smaragdeidechse ist es noch zu kalt, den Brennnesseln nicht. Ich klatsche Fliegen, die sind lieber in der warmen Stube als draußen. Herrjeh! Mögen sie als geliebte Wesen wiederkommen. Ja, es tut mir leid, aber sie nerven.
Und eigentlich würde ich jetzt meinen gepackten Rollkoffer und meinen Rucksack nehmen und nach Griechenland fliegen … eigentlich und ach … sei nicht traurig … doch, ich bin traurig und dann weine ich und dann ist es.
Ich mag ihn nicht, den Satz, dass das Leben kein Ponyhof ist, aber ich mag das Leben, auch wenn es mir gerade ein Bein gestellt hat. Und ich mag den Satz, der hinfällt, das Krönchen richtet und weitergeht.
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Manchmal wissen meine Bilder mehr als ich weiß, manchmal wissen es die Zwischenzeilen und manchmal wissen es die Zeilen an sich, ohne, dass ich es wüsste.
Manchmal ahnt Einer etwas. Wenn es passiert, weiß er es, vorher nicht.
Manchmal wundert sich Eine. Sie weiß es nicht einzuordnen. Später fügt sich eins ins andere.
Ein seidener Faden ist nicht zu unterschätzen. Seidenfäden sind stabiler als ihr Ruf. Manche sind rot. Manche sind blau.
Rot, wie das Blut und das Leben. Blau, wie die tiefe Stille und das All.
Und wieder geht es um die hauchdünne Linie, die alles voneinander trennt, die aber auch alles miteinander verbindet, Manchmal – je nachdem. Ein Jedes bedingt das Andere, alle bedingen sich untereinander, alles greift ineinander, alles ist mit allem verbunden.
Und plötzlich rücken sich Leben und Tod sehr nahe. An dieser hauchdünnen Linie kann man Frieden schließen.
Ich habe es dir versprochen, mein Lieb – ich bleibe bis du groß bist. Noch zwanzig Jahre, sagte ich. Und wenn es nicht klappt, weil ich es nicht in der Hand habe, bleibt etwas. Nichts geht verloren und Band ist Band, ob rot oder durchsichtig.
Dass wir darüber sprechen! Spüren wir etwas, das größer als all unser Wollen und Wünschen ist? Ich denke an Antonia*, an ihre Enkelin und an ihre Tochter. So werde ich es auch machen, wenn … versprochen, mein Lieb!
Heute höre ich immer wieder das Lied „Amalia“ von Melody Gardot, das Lied von der Taube mit dem verletztem Flügel. Ich denke an meine Leidenschaft zu leben, an meine vielen offenen Träume und Wünsche.
Die Aborigines können an einem Tag ein gebrochenes Bein heilen. Komm, kleine Taube, wir fliegen zu ihnen, dann werden unsere Flügel im Nu wieder heil. Das Blau des Himmels erwartet uns schon. Die Amsel singt. So, wie sie immer singt, wenn ich Musik höre, wie damals auch in Berlin.
Heute ist der Sonntag von Schnee auf den Apfelblüten bis Sonnenschein und allem Schnee, der schnell wieder zu Wasser geworden ist. Mein Schnee wurde zu Tränen. Immer diese wandernden Schmerzen, von Tag zu Tag woandershin und so manch anderes Beunruhigendes. Ich will nicht meine Ängste nähren, sie anschauen schon. Ich will meine Leidenschaft füttern, meine Hoffnung auch.
Noch zwanzig Jahre. Das wäre schön, mein Lieb!
*Antonias Welt ist ein Spielfilm der niederländischen Regisseurin Marleen Gorris aus dem Jahre 1995. Ich erinnerte mich einmal mehr an diesen wunderbaren Film, auch er gehört zu meinen Lieblingsfilmen. Wer ihn nicht kennt, der kann ihn auf der Tube finden. Ich mag ihn hier nicht verlinken. So langsam aber sicher nähert sich meine Speicherkapazität dem Ende zu und ich mache mir Gedanken um einen Folgeblog.
Die Gedankenfäden schrieb ich am letzten Aprilsonntag, manches ist jetzt anders. Manches bleibt.
Du hast gesagt, ich soll nicht fragen. Ich habe nicht mehr gefragt, nur noch mich. Alles, was ich stehen gelassen habe, markiert die Trennungslinie.
Vielleicht weine ich auch immer bei dem Video von Abramović und Ulay, neben allem anderen, weil du Ulay ein bisschen ähnlich siehst.
Weiße Blütenblätter und pustige Samen taumeln durch mein Zimmer. Wäre gestampfte Erde mein Boden, würden im nächsten Jahr vielleicht ein Kirschbäumchen und ein Löwenzahn in meiner Stube wachsen. Ich würde sie gießen und alle Dachfenster öffnen; für den Wind.
Man muss nicht immer alles eins zu eins umsetzen, manchmal reicht die Imagination, damit sich etwas bewegt. Starke Frauen sind meine Verbündete, wir lernen voneinander. Nährend ist das.
Seitdem du angerufen hast, ist es schwerer geworden nicht an dich zu denken. Ich liebe noch immer deine Stimme, mehr als manches Wort. Muss ich das denn … nicht an dich, über dich und uns denken? Ist es denn nicht Teil des Weges, der Mündung zu? Wenn der Weg dort ist, wo die Angst ist, dann ist er auch dort, wo der Schmerz wohnt.
Vorhin habe ich zwei Schwebefliegen beobachtet. Es erschloss sich mir nicht, ob sie miteinander kämpften oder ich eine Form ihres Liebesspiels sah. Wie nah sich doch Kampf und Liebesspiel sind, bei den Tieren. Menschen sind Säugetiere.
Spinne webt ein neues Netz, sie hat Berührungspunkte eingewebt. Zwischen uns webt sich ein neuer roter Faden. Stille Liebe genannt. Niemand schwebt im luftleerem Raum, du nicht und ich auch nicht. Das Netz spannt sich über das große Feld, hier gibt es kein Getrenntsein. Man kann das spüren. Warum die Einen sehr wohl und die Anderen nicht, ist eine der nicht zu beantwortenden Fragen. Dabei geht es noch nicht einmal um Glauben. Manches Ahnen wird zu Wissen. Manche Wahrheiten tun weh. Besonders die über sich selbst.
Es ist eine Gnade vergeben zu können, sich, den Umständen, der Familie, den Freundinnen und Freunden, dir. So viel Unwissenheit! So viel Gefangensein! Schritt für Schritt, von Augenblick zu Augenblick, von Jahr zu Jahr bis Ende, bis wieder neu: Vergebung und Befreiung.
Im Zwischenraum finde ich Liebe, Weite, Glück, Verbundenheit, zwischen dir und mir und der Welt. Zwischenzeit, zwischen den Zeilen, Zwischenmenschlichkeit, Zwischentöne, Zwielicht sind Wahrheitsräume. Wahrheit ist nicht gut, nicht schlecht, sie ist.
Ich sehe eine rote Sandsteinwand in einem altem, rotem Backsteinhaus. Ich versuche sie zu erklimmen. Ich suche zwei Päckchen. Ich sehe und ertaste die Vorsprünge, sobald ich sie ergreife oder auf ihnen Fuß fassen will, bröckeln sie weg. Ich gebe das Vorhaben auf. Zwei Päckchen, eines kleiner als das andere, eins grün, eins blau, bei näherer Betrachtung sind es offene Origamischachteln, Erde ist darin. Wiedergefunden habe ich sie nicht.
Ich sehe eine T-Kreuzung. Ich biege weder rechts, noch links ab, ich fahre geradeaus in ein Feld, rote, schlammige Erde. Ein Riesentruck mit Anhänger fährt laut hupend vorbei. Der Dauerton einer Truckhupe ertönt: du-u-u-u-u-u-u-t. Truck und Hupe verschwinden aus Sicht- und Hörweite. Ein dicker Lehmklumpen klebt über mir an einer Strommastleitung.
Stelle dir die chinesische Mauer vor. Sie ist 21.196,18 km lang. Am östlichen Ende steht eine Frau, Marina Abramović, am westlichen Ende steht ein Mann, Ulay (Uwe Laysiepen). Neunzig Tage gehen sie aufeinander zu, um sich nach je 2.500 km und 12 Jahren intensiver Liebesbeziehung und gemeinsamer Arbeit voneinander für immer zu verabschieden. Das war 1988. Wiederum 12 Jahre später sehen sie sich während einer Performance von Marina Abramović im MoMa in New York wieder. Marina Abramović wusste nicht, dass sich Ulay ihr als Einer von Vielen gegenüber setzen würde.
Ich kann dieses Video nicht anschauen, ohne zu weinen. Tiefe Seelenberührung. Ich weiß nicht, ob ich sie Trauer nennen kann.
Viele Kilometer sind auch wir gegangen, voneinander weg. Abschied ist schmerzhaft. Immer. Wann wir uns wiedersehen? Wer weiß das schon. Noch gehe ich der Mündung entgegen. Wohin dein Weg dich führt liegt für mich im Dunkeln. Keine Worte. Jetzt. Ein Gefühl. Viele Gefühle. Kein Stachel mehr. Die neue Haut wächst langsam. Lebewohl sagen heißt dem anderen Wohl in seinem Leben wünschen. Das ist wieder keine unserer Fragen.
In ihrem Neu steht das alte Schatzkästchen. Das, mit dem roten Band darin. Erst wenn sich die Erinnerungen abgenutzt haben, wird sie es öffnen. Erst dann wird sie noch einmal dem roten Band folgen, vom Rot des Inkarnatklees bis zu dem Haus mit dem Garten. Bis dahin wird sie das Kästchen von Zeit zu Zeit abstauben, es von hier nach da rücken, in ihrem Neu. Manchmal wird sie in Versuchung geraten. Sie wird warten, bis es nicht mehr schmerzt.
„Es geht nichts verloren.“ Die kleine blaue Frau steht auf, sie lacht. Sie lacht und lacht. Rot und blau tanzt sie durch den Wald, aus seinen Wurzeln steigt das Lied vom Leben und Sterben. Die kleine blaue Frau vergräbt die Schachtel mit dem roten Band unter den Wurzeln der uralten Buche, sie lauscht dem Gesang des Himmels. Jetzt ist ihr Mädchen zu neuem Leben erwacht. Es tanzt rot mit ihr durch die Sommerbäche.
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Gedankenfäden 005
-1-
Heute Morgen ist etwas mit den Raben. Sie krächzen und krächzen. Alle anderen Vögel sind verstummt. Der Nebel wird immer dichter. Es fällt mir schwer nicht an dich zu denken. Heute kommst du zurück. Nebelgrauer Willkommensgruß. Alles Verdrängte, alles Nichterledigte, Nichtsausgesprochene wird wieder auf dich einstürzen.
An manchen Tagen möchte ich kein Holz holen müssen. Heute ist so ein Tag. Heute wäre ich gerne eine Seerose. Rein und weiß bin ich dem Teichschlamm entwachsen. Ich lasse mich von den leisen Windteichwellen wiegen, der Schönheit zuliebe. Es gibt Windbrunnen, die hat das Schilf gebaut. Du würdest mich wieder nicht erkennen.
Den tiefen Stachel will ich ziehen. Die alte Haut fällt in Schuppen ab, ich kann ihn jetzt sehen, kann ihn mit einer Pinzette ergreifen, ein Ruck und er ist raus. Ein Tropfen dunkelroten Blutes ist das Opfer für die neue Haut. Ich warte nicht, bis sich die Wunde entzündet, ich lecke sie. Meine Zärtlichkeit ist mein Pflaster. Als mein Vater nehme ich mich in den Arm, ich rieche an seiner Männerbrust, die nach Tabak und Waldharz riecht. Seine große Hand streichelt leise meine neue Haut.
Wenn ich groß bin, sagt meine Kleine, dann heirate ich dich. Er wirft mich lachend in die Luft, ich fliege, ich juchze, ich habe keine Angst, er wird mich wieder auffangen, wieder und wieder.
Die Freundin sagt, wie traurig das alles ist. Ich liebe sie. So, wie man eine Freundin liebt.
Die Zeit der Prinzen und Johnnys ist vorbei. Eine Prinzessin bin ich nie gewesen, auch wenn ich eine Erbse, unter zehn Matrazen begraben, erspüre. Ich kam als kleine Kaiserin zur Welt. Damals, vor elf Jahren. Oh ja, die kleine Kaiserin ist prächtig gewachsen. Sie wächst sich selbst entgegen. Die alte Buche ist unsere Zeugin. Sie braucht kein Land, kein Volk, die sie „ihres“ nennen müsste. Sie verschenkt sich, sie nimmt die Geschenke vom Wegesrand, sie wandert ihrer Einheit entgegen. Sie spiegelt sich in den Seerosenteichen, hinter ihr erblüht das Land. Sie wird nicht müde Blumensamen in die Lüfte zu werfen und mit nackten Füßen in Bergbächen zu tanzen, ihr Lied mit den Vögeln zu singen. Am Ende wird sie Liebe geworden sein. Das hat sie von der Fährfau gelernt, von ihrem unermüdlichem Vor und Zurück.
Ich bin Anna – Hannah – Lucie, die kleine Kaiserin aus dem Land ÜberAll-im-IrgendWo – ich bin die kleine blaue Frau – ich bin.
Ein Gefühl wie ein Gemälde: links von mir ist eine alte, dicke Mauer – weiß gekälkt, ein Fenster ist darin, das offen steht. Sein Flügel weist nach draußen, er ist festgehakt, gegen den Wind. Eine weiße Chiffongardine bauscht sich hinein, hinaus. Es ist ein Turm – es ist ein Haus – es wellt ein Meer vor dem Fenster, vor und zurück. Ich sitze schräg davon, ich kämme mein langes rotblondes Haar, nicht alt, nicht jung, ein Ist im Sein, ein Gemälde wie ein Gefühl.
-2-
RoteFadenGeschichten sind Gedankenfäden, Gedankenfäden sind RoteFadenGeschichten, sie schreiben sich fort, mit und ohne Bilder, mit und ohne Worte. Sie sind keine blauen Stunden und auch keine Momentaufnahmen, auch wenn heute immer gerade jetzt ist; der Moment in dem die Raben krächzen oder wie gerade jetzt der Nebel nach oben steigt, die Sonne die ersten Schatten des Tages an die Wand wirft.
Sie sind Geschichten des VorundZurücks, der Ankünfte und Abschiede, der Bahnhöfe und Flughäfen, der Kaimauern und Leuchttürme, der Schwäne und der Nebelhörner. Es sind Geschichten von der Aufrichtung in Aufrichtigkeit mit närrischen Kapriolen. Es sind die Geschichten von den Zwillingsbäumen und der Moosfrau, von singenden Steinen und von Sternenstaub im weiß gewordenem Haar. Sie sind Tanz in jeder Form.
P.S. Heute haben sich verschiedene Kategorien und Geschichten aus der Vergangenheit in die Gedankenfäden geflochten, es sind die
Momentaufnahmen
blaue Stunden
die kleine blaue Frau
bei Interesse kannst du diese Begriffe in die Suchmaschine eingeben. Anderes, wie Lucie, die kleine Kaiserin, liegt noch immer als zweiter Kinderbuchentwurf in der Schublade.
Es ist ja nicht so, als ob es nicht traurig wäre! Du bist mir Heimat gewesen, bist es noch, nur anders. Jetzt bist du meine verlassene Heimat. Verlassene Orte sind merkwürdig kalt, sie riechen nach Pilzen.
So gerne möchte ich schneller gehen. Die Sehnsucht nach der Mündung treibt mich. Wieviel Traurigkeit noch immer zwischen den Zeilen ist! Es hat schon mehr als einen Tränenbach in meinem Leben gegeben. Wie befreiend es ist rückwärts zu schauen: das habe ich schon einmal geschafft – und dann nach vorne zu gehen.
Damals waren die Beine noch jünger, vielleicht trugen sie mich schneller zur Mündung, aber vielleicht täuscht das alles auch nur. Erinnerungen neigen zu Kapriolen und manch anderen Narreteien.
Du bist Zurzeit eine Leerstelle. Ich brauche das jetzt. Ich schütze mein Herz. Es ist noch zu früh die kostbaren Erinnerungen in der roten Lackschachtel zu betrachten. Anderes ist zu spät für uns. Manch roter Faden verflechtet sich mit einem anderen auf seinem Lebensweg, andere baumeln lose im Raum.
Ich denke an Mr. Aufziehvogel*, der auf dem Boden des ausgetrockneten Brunnens saß, suchte und fand, anderes, vielleicht auch ein Stück von sich selbst. Daneben steht das Bild der österreichischen Bergwiese aus der einhundertundachtundmehr Quellen blubbern, spitzfelsige Berge rahmen das Bild. Heiliger Boden, reines Wasser, ein Stein senkt Altlasten auf den Grund. Still. Tief. Bergsee. Kalt. Kalt ist auch der quicklebendige Bergbach, der einlädt Schuhe und Strümpfe auszuziehen und darin zu tanzen.
Du sagst, du wärst ganz Schuld. Als ob es darum ginge!
Die Freundin sagt, dass sie gerade die ganz einfachen Dinge glücklich machen. Sie könnte jetzt Erbsen puhlen. Ich muss so lachen!
Du hast gesagt, ich hätte den Frieden mit Nachhause gebracht. Damals, als ich von der Bergwiese mit den einhundertundachtundmehr Quellen zurückgekehrt bin. Dass selbst solch ein Frieden nicht halten konnte – und als ob das nicht traurig wäre!
Und dann sehe ich mich in der Abendsonne sitzen. Vögel zwitschern.
Die Vögel kümmert der Aprilregen nicht. Auch nicht die Flocken, die dann und wann wieder und noch fallen. Auch nicht der Nebel, der an manchen Morgenden noch bergan wallt. Die Vögel singen. Ihr Nest, ihre Eier, ihre Vogelfrau, ihr Vogelmann, das ist ihr Lied, in artenreichen Variationen.
Was macht ein Vogel, wenn er Schmerzen hat? Hat ein Vogel Schmerzen? Er muss Schmerzen haben, wenn er sich verletzt hat, zum Beispiel. Von so Vielem weiß ich nichts, als lebte ich ein karges Leben!
Die Haut ist ganz trocken, ich schmiere und schmiere. Die Brüste ganz weich, längst haben sich die Ellbogen daran gewöhnt sie zu berühren, wenn sie nicht hochgelupft werden. Wozu eigentlich?
Was sich so alles gehört und was so alles nicht – und auch nicht gehört, und schon gar nicht erhört wird!
Was und wer alles kam und vorüberging, welche Schritte vor der Haustüre verharrten und sie passierten, wer alles draußen blieb und bleiben musste, leider oder auch nicht. Und wer auch später wieder ging, mit und ohne Wiederkehr.
Das Leben ist eine Bahnhofsgeschichte von Ankunft und Abschied. Eine Geschichte vom Umsteigen, von richtig und falsch gestellten Weichen, von richtigen und falschen Signalen, von Gleisüberquerungen mit und ohne Schranken. Die Geräusche am Bahndamm haben sich über die Jahrzehnte verändert. Gibt es noch spielende Kinder dort? Legt noch eins sein Ohr auf die Schienen, um zu hören, ob ein Zug naht?
Nein, Mutter hat davon nichts gewußt. Mütter dürfen manches nicht wissen! Erst später, wenn die Kinder und Mütter auf gleiche Augenhöhe herangewachsen sind, dann können sie gemeinsam über die kindlichen Spiele lachen.
In den Fluren der Häuser und Schulen in Schweden riecht es nach nasser Wolle – oder ist das jetzt auch vorbei? Länderraumakklimatisationen?
Die weiße Kugellampe beleuchtet das feine Gesteck der zarten Schlehenblüten mit einer tiefroten Ranunkel in der weißen Porzellanschale, mit dem weißen Bretagnestein. Und immer dieses Rot! Als wollte es mich erinnern, an das Blut und an das Leben, an die Kraft und den Willen, an die Liebe, die Lust und die Leidenschaft.
Rote, blaue, grüne und schwarze Schuhe, jetzt also blaue, wie fremd sie mir noch sind! Als Mädchen habe ich einmal beim Ostereinkauf hellblaue Schuhe bekommen. Ich musste bitten und betteln. Mutter war skeptisch, weil sie ein Absätzchen hatten. So stolz war ich während jener Ostertage, wenn ich auf meine Füße schaute.
Immer fuhren wir vor Ostern in die große Stadt, Mutter und ich. Immer dann gab es neue Sonntagskleidung. Und immer betrübte ich Mutter, weil ich nie ein Hütchen wollte. Am Abend gab es dann Röggelchen * mit Feinkostsalaten von „Nordsee“. Ein Fest! Einmal im Jahr war das so. Alle anderen Kleider, Röcke, Blusen, Mäntel und Pullover kamen von den größeren Cousinen, nähte, strickte, häkelte Mutter selbst oder brachte der Nikolaus/das Christkind. Letzteres konzentrierte sich auf Schlafanzüge, die sich, je größer ich wurde, in immer länger werdende Nachthemden wandelten.
Und dann die vielen Horsts in meinem Leben. Der erste Kuss von dem Horst, der nicht Förster wurde, aber so hieß. Die Ferienliebe Horst und auch ein Kuss, mindestens, der sich kurz danach versehentlich erschoss. Die zweite Ferienliebe, unerwiedert, der feine Gedichte schrieb, später, als ich ihn schon nicht mehr kannte, die dennoch ihren Weg zu mir gefunden haben, später, als auch er schon nicht mehr lebte. Und dann die große Liebe, die längste, die, die sich gerade verwandelt, worein auch immer noch. Die mich, trotz aller Ewigkeit, die Notbremse ziehen ließ. Der Zug hielt kreischend auf weit offenem Land. Ich bahne mir meinen Weg zur Mündung.
Ja, ich mag wieder erzählen – meine und andere Geschichten.
Hierzu passt auch das neueste Video von Cambra Skadé
*Mr. Aufziehvogel ist ein Buch von Haruki Murakami
*Röggelchen werden in Düsseldorf die Roggenbrötchen genannt
Der rote Faden, der du einst gewesen bist, drohte mich zu strangulieren. Viele Quälgeister habe ich eingeladen und alle Männer waren Vater. Niemand ist mir je Vater gewesen. Ich bin mir über die Jahre Mutter geworden, es wird Zeit mir Vater zu sein. Liebevoll werde ich mich auf den breiten Schultern tragen, mich in die Luft werfen und wieder auffangen. Mit neuen Bildern und Worten werde ich mir die Welt erklären, meine kleine Hand in meine große legen, die mich führen wird – über Abgründe hinweg.
-2-
Nur er, der Ritter mit der blauschwarzen Rüstung, wußte was Leiden war. Nur er kannte Schmerz, er allein ist dem Tod von der Schippe gesprungen. Sie lachte ihr gluckerndes Lachen. Seine Rüstung, ein Narrengewand. Sie hat ihre Angst weggelacht. Verwundert schaut er ihr nach. Sie hat nur einmal Simsalabim geflüstert, da war er zu einem hässlichen Zwerg geschrumpft. Verlust und Schmerz ließ seinen Blick sterben. Sie tanzt jetzt für einen anderen.
-3-
Mitten im Strom hängengeblieben, im Gegenstrudel des Fürundwiders auf der Stelle tretend weitergegangen.
Eine Bewegung, erst klein, die Tür ist geöffnet. Es gibt kein Haus. Ein Bett unter einem trockenem Dach, das Winterholz hinter der Wand, geflüsterte Worte, du bist weit weg, es hat sich nichts geändert.
Bittere Frauen, ein Bänkelsänger, ein zugeklebter Mund, verstopfte Ohren, rollende Räder, weg von brennenden Scheiben, berghohe Feuer, keine Gefahr.
Weg weg, dichtes Dickicht, lose Worte, Los gekauft, Geld los, ein Loch in der Hosentasche. Den Ball eingelocht, schwere Verbrecher erbrechen Kaviar in goldene Schüsseln.
Drei Kammern: Altglas, Altpapier, Restmüll. Der ohne Obdach, am Bahnhof verlor die Mission, lehnt an der dritten Kammer. Toni Restmüll. Eiserne Besen fegen den Winter der Welt. Hitze und Dürre, verirrte Eisbären sterben vor vergoldeteten Türen.
Eiserne Bänder geflochten, bunte Bilder, bemühte Schönheit, gefütterte Freude, kein Prinz, viel Angst, kleine Hände graben nach Liebe.
Die Sonne scheint. Der Nachbar kotzt. Guten Morgen!
Es geht gut – es kann nicht gut gehen – gehen tut gut.
Wir ist auf die Fliesen gekracht. Eine Hand fegt Scherben. Das Herz gehalten. Eisenband. Kein Wagen, kein Heinrich. Flüsse fließen wieder. Steine und Wagen poltern über Kopfstein, Kopf und Stein, Stolperstein, Erinnerungen, Gedenken, an dich denken, Trauer, Frieden, Stille, Meer.
Bierdumpf ist auch so ein Wort. Dumpf überhaupt – Dampf, Qualm, Nebel, Rauch – bald Bahnhof, dann Flugzeug, dann weg.
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