Von Vorstellungen und vom Gehen

In der Vorstellung von Langzeitreisen Zufuß oder per Auto, Bus, Bahn sind Regen- und Winterzeiten an der Peripherie gelagert, Einsamkeit ist nur ein Wort.

Werner Herzog ging vom 23.11.-14.12.1974 von München nach Paris. Lotte Eisner war schwer erkrankt, es hieß sie könne sterben. Herzog ging gegen ihr Sterben an, er wollte sie noch nicht verlieren, persönlich nicht und auch nicht für den Film.

Er ging über die schwäbische Alb, den Schwarzwald, zum Rhein hinunter, durchquerte das Elsass und erreichte nach zweiundzwanzig Tagen Paris. Unwetter, Regen, Schnee, Eis, Hagel, Blizzards ziehen über ihn hinweg und durch ihn hindurch. Nur manchmal blitzte die Sonne auf, das war noch jedes Mal ein Fest.

Zweiundzwanzig Tage an denen er an jedem Abend den vergangenen Tag schreibt, eine Mischung aus Gesehenem, Erlebtem, Gedachtem, Gefühltem, Träumen, Erinnerungen, Geschichten.

Wenn Einer nur geht, nur ab und an eine Gaststätte aufsucht oder eine Pension, kleine Läden betritt für die tägliche Ration, nur wenige Worte wechselt, dann beginnt der Geist eigene, andere Wege zu gehen.

Herzogs Aufzeichnungen gleichen Kurzfilmsequenzen. Seine Sätze höre ich von Bruno Ganz intoniert. Es sind Sätze, die nicht vorüberziehen. Tief, schön und wahr stehen sie fest auf dem Papier, sie lassen sich festhalten. Dieses Mal ist es kein Film ohne Stopp-, Vorwärts- und Rückwärtstaste.

Seit gestern Nachmittag brennen meine Fußsohlen. Als ob sie begonnen hätten zu brennen, weil Werner Herzog zweiundzwanzig Tage über Stock und Stein gegangen ist. Anfangs hatte er Schmerzen und Blasen. Er musste sich eingehen, den Punkt erreichen von dem die Füße und Beine von alleine liefen und den Raum für die Gedanken freigeben konnten.

Während ich lese befinde ich mich immer intensiver in den 1970er Jahren. Ich gehe nicht oft in ihnen spazieren. Jetzt kann ich diese Jahre wieder riechen, sehe Straßendörfer, Dorfstraßen, Feldwege, Kastanienalleen und der Krieg hockte noch überall zwischen den Gemäuern, den Wegen, in Orten, in den Gesichtern, er war noch nah, auch bei Werner Herzog. Jetzt hat sich der Zweite Weltkrieg in die Falten der Geschichte gelegt, er bleibt ein Mahnmal. Wer lässt sich von vergangenen Leiden und Gräuel mahnen, wenn es um Pfründe geht?

In der Vorstellung läuft Einer leichtfüßig von München nach Paris, weil er will, dass Lotte Eisner weiterlebt, weil er alleine sein will. Er denkt nicht an Begegnungen, an Tiere, an Wetter, nicht an Einsamkeit, sie kommen über ihn.

Im Wirtshaus

Als ich aus dem Fenster sah, saß auf dem Dach ein Rabe mit eingezogenem Kopf im Regen und bewegte sich nicht. Viel später saß er immer noch da, reglos und frierend und einsam und still an einem Rabengedanken. Da fuhr ein brüderliches Gefühl in mich hinein und eine Einsamkeit füllte die Brust. (S.23)

Dörfer

Die Dörfer stellen sich beim Näherkommen tot. (S.24)

Weil ich so einsam bin, schenkt mir die rundliche Bedienung über das lauernde Schweigen der Männer hinweg ein fragendes Wort. (S.63)

Mäuse

Mäuse sehe ich so viele. Wir haben alle keine Ahnung mehr davon, wieviele Mäuse es auf der Welt gibt, es ist unvorstellbar. Die Mäuse rascheln ganz leise im niedergedrückten Gras. Nur wer geht sieht die Mäuse. ( … ) Mit Mäusen ist Freundschaft möglich. (S.56)

Vom Gehen

Die Sohlen kochen von dem glühenden Kern im Innern der Erde. Die Vereinsamung ist heute noch tiefer als sonst. Ich entwickle ein dialogisches Verhältnis zu mir selbst. Vom Regen kann man erblinden. (S.75)

Vögel

Vögel habe ich aus einem leeren Acker aufsteigen sehen, es wurden immer mehr, die Luft war schließlich ganz angefüllt mit ihnen, und ich sah, sie kamen aus dem Innern der Erde hervor, von ganz tief innen, wo die Schwerkraft ist. Dort ist auch das Kartoffelbergwerk. (S.86)

Wald

Heute sage ich oft Wald zu mir. Die Wahrheit geht selbst durch Wälder. (S.87)

Weitergehen

In Savieres in der Dorfschule überlegte ich, nach Paris zu fahren. Welchen Sinn hat das. Aber so weit gekommen zu Fuß und dann fahren? Lieber die Sinnlosigkeit, wenn es eine ist, bis zur Neige gekostet. (S.92)

Werner Herzog – Vom Gehen im Eis – Fischer Taschenbuch Verlag F.a.M. 1987 – ISBN 3-596-25198-2


Die 1970er Jahre, der Krieg immer noch nah, Dörfer, die sich tot stellen, lauernde Männer im Wirtshaus – welch eine Enge! Ich spüre sie noch, mitten in meinen damaligen Aufbruch hinein.


Es sind solche schmalen Bändchen, die mich immer mal wieder nachhaltig beschäftigen, die etwas bei mir ins Schwingen bringen und Worte eine eigene Melodie entwickeln.


Dieser Artikel ist Irgendlink gewidmet, dessen Radelreiseberichte ich so schätze …

64 Gedanken zu „Von Vorstellungen und vom Gehen

  1. Schön … wieder von diesem kleinen Büchlein zu lesen, liebe Ulli, das ich auch besitze, wenn auch in einer anderen Ausgabe …

    Dankeschön für’s Zeigen und Präsentieren. Ich muss es auch mal wieder lesen…

    Liebe Morgengrüße vom Lu

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  2. Liebe Ulli!
    Dein Beitrag hat mich sehr angesprochen, weil er u.a. das „zu sich selbst finden“ über das Reisen benennt. Das kenne ich von meinen Reisen und von meiner „Buchalovs Freunde Tour“. Und das man so seine eigeneForm der Dokumentation finden kann, finde ich auch wieder – von den Grenzen der Körperlichkeit bei einer solchen Art des „zu sich selbst Findens“ ganz zu schweigen.
    Liebe Grüße Juergen

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    • Lieber Jürgen,
      ersteinmal herzlich Willkommen zurück! Beim Gehen (und Radeln) kommt man wohl unweigerlich an seine körperlichen Grenzen, beim Reisen in einem WoMo ist es anders, zumindest hat man immer ein Bett für die Nacht und muss nicht in Wochenendhäuschen einbrechen (wie es Herzog in seiner Not mit dem Wetter tatsächlich tat) oder einen Stall für die Nacht finden. Selbstfindung und Dokumentation findet dabei dennoch statt. Ich finde die Idee einmal eine gewisse Strecke zu gehen schon länger reizvoll, mal schauen was ich in diesem Leben noch verwirklichen werde.
      Herzliche Grüße sende ich dir,
      Ulli

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    • Liebe Anna-Lena,
      an den Jakobsweg habe ich gestern auch gedacht, mir persönlich ist dies zu populär geworden, auch wenn es den Vorteil hat, dass man immer mit einer Herberge rechnen kann. Ich denke nun darüber nach welche Strecke es sein könnte und was genau ich dafür bräuchte und wie ich mich für solch einen Gang vorbereiten kann.
      Hab einen schönen Tag,
      herzliche Grüße, Ulli

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              • Heute gibt es sie. Als Herzog losging hatte er einen Kompass und eine Karte, solch ausgebauten Netze gab es 1974 noch nicht. Ich würde mich allerdings auch lieber orientieren können, nur ein Kompass wäre mir zu wenig. Eine Karte allerdings ist ein Muss für mich. Ich studiere sie so gerne. Der moderne Mensch hat natürlich ein smartphone mit Navi 😉

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                • Ich habe nicht den Hauch einer Ahnung, ob die Smartphones mit Navi einem wirklich helfen, wenn man im dunklen Wald an einer Abzweigung steht. Ich zweifle. Und in der Stadt bin ich damit auch mal grandios auf die Schnauze gefallen, das kann aber auch an mir gelegen haben.
                  Alles in allem würde ich wohl auch nicht ohne eine Karte loslaufen wollen. 😉
                  Liebe Grüße aus dem verregneten Hamburg
                  Christiane

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                • Im Wald kommen ja auch noch die Funklöcher hinzu 😉 also doch Karte und Kompass und ein bisschen Vorbereitung, so, wie ich es auch halte, wenn ich mit dem Auto in fremde Länder oder Orte fahre.
                  Oh wie schön, ihr habt Regen, hier scheint die Sonne, ja, auch schön, aber, aber …

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    • Liebe Kat., guten Morgen, ob man wirklich nicht mehr denkt weiß ich nicht, zumindest irgendwann einmal nicht mehr über die schmerzenden Füße 😉
      liebe Grüße, Ulli

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      • Nein denken tut man schon aber die Gedanken fliegen. Ich glaub man denkt anders. Nicht mehr so gesteuert. Entspannter. Weiss ich wenigstens von meinen stundenwanderungen. Und wie muss das denken dann sein wenn man Tage wandert. Das war so mein Gedanke.

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        • Das stimmt, man denkt anders, als ob ein Wind durch den Kopf geht 😉 Und ja, das gilt es wirklich einmal auszuprobieren, ich habe mir heute schon so verschiedene Wege angeschaut, aber so ganz weiß ichs nicht, mir gefiel auch die Idee von Kormoran einmal um Irland herum zu gehen, zumal ich noch nie in Irland gewesen bin … na mal schauen, jetzt erst einmal hier und jetzt meine Wanderungen wieder aufnehmen und ausdehnen!

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    • Guten Morgen, liebe Petra, nein, eine Liebesgeschichte ist es nicht. Werner Herzog war nicht mit Lotte Eisner auf dieser Ebene verbandelt, er hat sie als Mensch und ihr Tun geschätzt, altermäßig waren sie ja auch Jahrzehnte auseinander, sie wurde 1896 geboren, er 1942 … er hatte zu diesem Zeitpunkt eine kleine Familie in München und einen kleinen Sohn, der auch anfangs erwähnt wird.
      Ich wünsche dir einen schönen Tag,
      herzlichst, Ulli

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  3. Das Buch habe ich direkt nach dem Erscheinen damals gelesen und habe es noch heute gut im Kopf – woraus ich schließe, dass es mich beeindruckt. ….
    Ich habe damals dann mal so einen ganz kleinen Ansatz gemacht, es ihm nachzutun: Ich bin mit der Bahn an einem 1. Mai, das Wetter war überhaupt nicht toll, zum Rursee gefahren. Von da wollte ich, bewaffnet mit einer genauen Karte, auf dem kürzesten Weg durch Feld und Wald nach Hause gehen. War sehr eindrucksvoll, aber 5 km vor meinem Ziel taten mir die Füße so weh, dass ich in einen Bus gestiegen bin …. also bis Paris wäre ich nicht gekommen.

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    • Ich glaube auch, dass die größte Hürde ist die Füße ans lange Laufen zu gewöhnen! Er hatte ja zu neue Stiefel, also müssten auch die Schuhe gut eingelaufen sein, aber egal wie, man liest immer wieder über Blasen …
      Ja, dieses Buch beeindrcukt auch mich nachhaltig, was ja nicht allzu oft vorkommt, wenn ich an die Literatur denke oder das, was man so nennt, die ich in diesem Jahr schon gelesen habe, dann ist das auf alle Fälle ein Highlight des Jahres!
      liebe Grüße, Ulli

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  4. Bei allem, was ich hier gelesen habe, bin ich bei euch. Tagelaufen – egal wieviele – hat eine eigene Magie. Es entsteht ein Rythmus, hohe Aufmerksamkeit und jede Begegnung, jedes Erlebnis passt zu unserer eigenen Geschichte. Damals, wie heute. Alleine laufen fordert heraus, denn während der Körper in Bewegung ist, mistet der Geist aus und füllt sich frisch auf. Ich liebe es und mit gut angefreundeten Wanderschuhen gibt es keine Blasen.

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    • Du bist die Lauf-Spezialist, liebe Erika, und ich freue mich, dass du deins hierzu geschrieben hast. Ich glaube auch, dass die Wanderschuhe gut eingelaufen sein sollten und das andere ist, dass man sich auch langsam steigern sollte, gerade für solch Ungeübte, wie ich eine bin. In diesem Jahr bin ich extrem wenig gelaufen, das soll sich aber unbedingt wieder ändern!
      herzliche Grüße
      Ulli

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  5. Werner Herzog, mein Jahrgang. da gibt es Verwandtschaft.
    Ich seh, wenn ich an solche Wege denke, Menschen vor mir, die mit Sack und Pack und Kindern und Alten gehen, nicht weil sie möchten, das eine nicht stirbt, sondern weil sie leben möchten und es doch nicht dürfen. Och sehe die Todesmärsche vor meinem inneren Auge und die Märsche derjenigen, die über Grenzen wollten und mussten, durch wenig begangene Gebirge, über Flüsse, die sie nicht kannten, durch Steppen, auch die, die durch verstummende Dörfer getrieben wurden und weiter.
    Wenn ich längere Strecken gehe, sehe ich sie immer vor mir und fühle meine Blasen und das Gewicht auch noch der kleinsten Tasche und fühle ihre Schwäche und dass sie sich einfach nur hinlegen möchten und sterben.

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    • Liebe Gerda, solcherlei Erinnerungen hatte auch Werner Herzog auf seinem Weg. In eurer Generation ist der Krieg und alles was mit ihm verbunden war noch um einiges näher als in meiner Generationen, obwohl er auch bei uns noch in den Zellen wohnt. Wie anders es schon z.B. bei meiner Nachbarin ist, die gerade mal 45 Jahre alt ist, ganz zu schweigen von der jetzt jungen Generation … Wir hier, im sogenannten reichen Westen machen uns Gedanken über Wanderurlaube, Pilgerrouten u.ä., für andere ist dieses Gehen ein Muss, auch heute noch, das sollte nie vergessen werden!!!
      Hab Dank für deins. Herzliche Grüße, Ulli

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  6. Wunderbar nacherzählt, liebe Ulli! Man fühlt sich in eine andere Welt versetzt, die man sich auf dem bequemen Sofa nicht leicht vorstellen kann. Mal sehen, ob ich dieses interessante Buch hier in Kanada kaufen kann. Hab noch einen schönen Tag! Peter

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    • Lieber Peter, da halte ich dir die Daumen, es lohnt sich wirklich, wie heute ja auch schon einige bestätigt haben, die es schon kannten. Schön, mit diesem Eindruck nicht alleine zu sein. Aber Werner Herzog ist ja auch wirklich ein ganz besonderer Mensch. Wieviele Filme er gemacht hat und wie wenige ich nur davon kenne, das gilt es auch nachzuholen. Er hat wohl auch noch mehr geschrieben, für mich war neu, dass er u.a. Literatur studiert hat, wie übrigens Hanna Schygulla auch, die so eine wunderbare Autobiographie geschrieben habe, auch unvergesslich!
      Herzensgrüße an dich, Ulli

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  7. Eine tolle Buchbesprechung für ein anscheinend sehr eindrucksvolles Büchlein, liebe Ulli
    Ich gehe gerne, bin auch immer gerne gegangen, aber im Laufe der Jahre werden die Füße immer empfindsamer und ich weiß nicht, wieviele km ich packen würde…
    Um so größer ist meine Bewunderung für alle, die es können und das vorgenommene Ziel auch erreichen

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  8. Habe den Text als Rundfunkfeature in den 80gern gehört, Zwischentexte gab es auch, weiß nicht mehr von wem. Herzogs Gedankengänge haben mich sehr beeindruckt. Eine wunderbare lyrische Prosa. Danke fürs Hervorholen. Und das Bändchen habe ich mir jetzt auch bestellt.

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    • Wie mch das freut, dass ich so viele hier inspirieren konnte sich dieses Bändchen jetzt auch anzuschaffen. Das Radiofeature interessiert mich nun natürlich auch, da muss man wohl tief graben!
      Herzliche Grüße an dich, Ulli

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  9. Schön!

    Ich war im September im Antiquarat und besorgte mir 5 Bändchen, allesamt 40 – 50 Jahre alt.
    Z.b. Horst Krüger: Tiefer deutscher Traum“ und „Da geht Kafka“ von Johannes Urzidil.
    Ersteres Buch liest sich sehr gut, es ist ein Wandern durch „urdeutsche“ Gegenden, ein Nachspüren von Geschichte und Eigentümlichkeiten der jeweiligen Region.

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  10. Pingback: Am Rhein – ein Ausflug |

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