Das wiedergefundene Licht #1

Eine Rezension: Jaques Lusseyran „Das wiedergefundene Licht – Die Autobiographie eines Menschen, den seine Blindheit sehen lehrte“

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Das ist mir selten passiert, dass ich ganze Abschnitte, ja, ganze Seiten in einem Buch hätte anstreichen wollen! Ich habe mich entschieden dieses Buch in zwei Teilen zu besprechen bzw. sprechen zu lassen: nach dieser Einleitung folgt nun gleich die eigentliche Buchbesprechung, plus Zitaten aus dem letzten Drittel des Buches. In Teil #2 werde ich an den Anfang des Buches zurückgehen und nur Zitate einstellen, in denen Jacques Lusseyran seinen Weg und seine Erfahrungen der Möglichkeiten von Wahrnehmung teilt.

Selten habe ich mir so intensiv gewünscht, dass möglichst Viele dieses Buch lesen: für eine Blickwinkeländerungen auf Menschen mit einer sogenannten Behinderung, als Mutmacher, dass egal was passiert, die Liebe nicht verloren gehen kann, wenn man es nicht zulässt, aber auch als Antidot für Depressionen!

ob_d29b31_imagesJacques Lusseyran wurde am 19. September 1924 geboren, er lebte mit seinen Eltern in Paris, beide waren Musiker und galten als Antroposophen.

Er beschreibt sich als glückliches und geliebtes Kind. Er war aufgeweckt, ein guter Schüler, wurde von seinen Eltern gefördert, hatte Freunde, nur ein bisschen kurzsichtig war er. Dafür gab es Brillen. Und genau diese wurde ihm zum Verhängnis: ein etwas heftiger Knuff, ein unglücklicher Fall und die Brillenbügel bohrten sich in seine Augen. Der kleine Jacques war acht Jahre alt und erblindete.

Was immer er von sich und seinem Leben erzählt, er vergisst dabei nie die Anderen und besonders Jene nicht, die nicht wie er gefördert und unterstützt wurden. Jacques Lusseyran weiß um sein Privileg Eltern gehabt zu haben, die ihn nicht bestimmten, sondern ihn begleiteten und unterstützten.

Vieles aber hatte er sich und seinen Gaben/Veranlagungen zu verdanken, seinem neugierigen, offenen und wissbegierigen Wesen. Er lernte hören, spüren und sehen. Er liebte- nicht nur das Leben selbst!

Er erkannte schon bald, wenn er aufhörte seinen Blick nach außen zu richten, ihn statt dessen nach innen wandern ließ, dass dort Licht war. Ein helles, warmes Licht, das je nach Stimmung und Gegenüber noch heller, aber auch dunkler wurde. So stellte er fest, dass Angst verdunkelte, Freude erhellte. (In Teil #2 werde ich darauf zurückkommen.)

Wieder und wieder stellte er sich und seine Wahrnehmung auf den Prüfstand und spielte dabei mit den Anderen, ihren Vorurteilen und seiner Blindheit.

Er hatte Freunde, viele Freunde und besonders einen: Jean. Was Jean nicht sah, sah Jacques, was Jacques nicht sah, sah Jean. Alles was sie verband war Ergänzung und nicht nur in Bezug auf sehend oder blind sein.

Das Buch teilt sich für mich in zwei große Kapitel. Die Zeit seiner Kindheit, Schulzeit, hinein in seinen Reifeprozess. Jacques Lusseyrans Leidenschaft galt dem Gebiet der Geisteswissenschaften.

Aber neben seiner persönlichen Welt gab es die Welt, die er mit allen teilte. Der zweite Weltkrieg begann, die Deutschen marschierten in Frankreich ein, die Zeit ihrer Besatzung und ihrer Greueltaten begann sich nun auch hier auszuweiten. Lusseyran nahm Paris und die Menschen darin als in einem Schockzustand gefangen wahr, während sich bei ihm ein immer stärker werdender Widerstandsgeist zu regen begann.

Er war 17, als er sich seinen engsten Freunden anvertraute und ihnen seine Haltung darlegte, dass sie mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung standen, Widerstand gegen die Nazis leisten, und das französische Volk informieren müssten, was jenseits von kontrollierter Presse und Radiosendungen in der Welt wirklich geschah. Von anfänglich 4 Mitgliedern wuchsen sie zu einer Bewegung, die innerhalb einiger Monate 600 Mitglieder zählte.

Ihre Gruppe, die sich „Volontaires de la Liberté“ nannte, fand Verbündete in der „Défense de la France“. Diese Gruppe hatte die Mittel, die ihnen fehlten: Räume und Maschinen, um eine Zeitung zu drucken. Aus einem simplen Faltblatt wurde eine richtige Zeitung, die gen Ende Auflagen von 250.000 Stück und mehr erreicht hatte, die nicht mehr nur in Paris verteilt wurde, sondern in weiten Teilen Frankreichs.

Das blieb natürlich nicht unbemerkt.

Ihr Potential war ihre Jugend, das wussten sie und gleichzeitg wussten sie von Anfang an wie gefährlich ihre Arbeit war. Es gab kein leichtfertiges, unbedachtes Handeln, dafür allein sorgte schon Jaques Lusseyrand selbst, der als „Chef“ anerkannt war und ohne ihn und sein Urteil niemand in die Gruppe aufgenommen wurde.

Ihm mussten sich interessierte Menschen vorstellen. Er konnte an den Stimmen erkennen, ob sie falsch oder echt waren. Er spürte die Menschen, sah sie auf seine Art, nahm jede noch so kleine Regung an ihnen wahr. Kamen die leisesten Zweifel auf oder verdunkelte sich sein Licht, dann war die Entscheidung gefallen. Bis auf einmal…

Es war die Zeit, als „Volontaires de la Liberté“ und „Défense de la France“ schon zur Résistance gehörten, als sich Lusseyran gegen alle Zeichen für einen Mann entschied, der sie kurze Zeit später an die SS verriet. Es folgten Verhaftungen, Verhöre, Aufenthalte in Fresnes, Folterungen und die Transporte in das KZ Buchenwald e(Siehe dazu auch oben den Link zur Person Jacques Lusseyran)

Jacques Lusseyran hat Buchenwald überlebt, nicht zuletzt auch, weil er seinen Blick nach innen gerichtet hat, weil er liebte und weil er glaubte. Er hatte eine starke Verbindung zu Gott, ohne sich einer christlichen Kirche zu verpflichten oder zugehörig zu fühlen.

Viele seiner Freunde kamen in Buchenwald um. Sein Freund Jean starb auf dem Transport von Fresnes nach Buchenwald.

Hier nun die Zitate aus dem letzten Drittel des Buches,

Im Gefängnis muss man mehr als je in sich selbst leben. Und wenn es einen Menschen gibt, den man nicht – wirklich nicht – entbehren kann (zum Beispiel ein Mädchen irgendwo außerhalb der Mauern), mache man es, wie ich damals: man schaue sie mehrmals am Tage lange Zeit an. Aber man versuche nicht, sich sie dort, wo sie im Moment ist, vorzustellen, dort, wo es überall freie Luft und offene Türen gibt; denn es wird einem nicht gelingen, und es tut weh. Man betrachte sie in sich selbst. Man schneide von ihr alles weg, was Raum ist. Man übergieße sie mit all dem Licht, das man in sich birgt. Man braucht keine Angst zu haben, es zu erschöpfen: Liebe, Gedanken und Leben besitzen dieses Licht im Überfluss. So wird man die Mutter, die Geliebte oder die Kinder gut sehen können. Und einen langen Augenblick wird man nicht einmal merken, dass man im Gefängnis ist. Man glaube mir: das ist es, was das innere Leben zu einem Wert macht. (S. 239)

Es gibt keine „Wahrheit“ über „das Unmenschliche“, so gut wie es keine Wahrheit über den Tod gibt. Auf jeden Fall gibt es sie nicht auf unserer Seite, unter uns Menschen. (S. 250)

… Doch viele starben ganz einfach vor Angst. Angst ist der echte Name für die Verzweiflung. (S. 256)

… Es war der einzige Kampf, den ich zu führen hatte – ein schwerer und wunderbarer Kampf zugleich – : ich durfte nicht zulassen, dass die Angst meinen Körper überfiel. Denn Angst tötet, Freude aber schenkt Leben. (S. 259)

Vergessen: das war das Gesetz. Man musste all das vergessen, die nicht da waren: die Kameraden in Gefahr, die Familie, die Lebenden und die Toten. Selbst Jean musste man vergessen. Nicht, um sich Schmerz zu ersparen – der Schmerz hatte sich ohnehin erbarmungslos bei uns eingenistet -, sondern um sich die Lebenskraft zu bewahren. Erinnerungen sind zu zart, zu dicht an der Angst, sie verzehren die Energie. Man musste in der Gegenwart leben, jede Sekunde mit Haut und Haar verschlingen, sich an ihr sättigen. (S. 266)

Eintausendsiebenhundert Offiziere und Soldaten der SS, die von der amerikanischen Armee gefangengenommen worden waren, waren in einem Block des Lagers untergebracht und ganz unserer Gnade und Ungnade ausgeliefert worden. Eine Tatsache, die erwähnenswert ist: es gab nicht einen Racheakt. Nicht ein SS-Mann wurde von einem Häftling getötet. Es gab nicht einmal Schläge oder Beschimpfungen. Man ging gar nicht zu ihnen hin. (S. 283)

Der allerletzte Abschnitt, beim Epilog angekommen:

Und warum hat nun dieser Franzose aus Frankreich sein Buch in den Vereinigten Staaten geschrieben und legt es heute seinen amerikanischen Freunden vor? Deshalb, weil er seit drei Jahren Amerikas Gast ist. Weil er dieses Land liebt. Weil er ihm seine Dankbarkeit zeigen wollte und kein besseres Mittel sah, sie auszudrücken, als in diesen beiden Wahrheiten, die keine Grenzen kennen und die ihm so vertraut sind: Die Freude kommt nicht von außen; es ist in uns selbst, selbst wenn wir keine Augen haben.

Jaques Lusseyran starb am 27. Juli 1971 bei einem Autounfall in Ancenis, zusammen mit seiner dritten Frau Marie.


kino-de

©kino-de

Und immer wieder dachte ich auch an den Film: Das Leben ist schön – ein italienischer Film von Roberto Benigni aus dem Jahr 1997, er führte Regie, schrieb beim Drehbuch mit und spielte die Hauptrolle.

Und immer wieder denke ich auch darüber nach wo wir heute stehen, was seit Jahren geschürt wird. Ich kann nicht mehr sagen: wehret den Anfängen, die Anfänge sind längst vorbei…

Anmerkung

Jaques Lusseyran – Das wiedergefundene Licht – Klett-Cotta im Ullstein Taschenbuch – ISBN 3 548 39029 3 Nov. 1983 – 30.-35. Tsd.

Porträtfoto Jaques Lusseyran:

© https://www.google.de/search?q=Jacques+Lusseyran&client=firefox-b&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwjizP2FppDSAhVMWCwKHV39B0EQiR4Ifg&biw=1280&bih=652#imgrc=pGYXEgNVJrqXmM:

Foto – Buchenwald:

© https://www.google.de/search?q=Jacques+Lusseyran&client=firefox-b&tbm=isch&tbo=u&source=univ&sa=X&ved=0ahUKEwjizP2FppDSAhVMWCwKHV39B0EQiR4Ifg&biw=1280&bih=652#imgdii=Nb7B6WZ21gJFIM:&imgrc=WWtZYkaGqzLsvM:

29 Gedanken zu „Das wiedergefundene Licht #1

    • absolut, heilend, nährend und wegweisend, so ist es für mich! Wie dankbar ich bin für all das was immer genau zum richtigen Zeitpunkt erscheint…
      liebe Soso, auch dir wünsche ich einen schönen Tag, hier scheint die Sonne vom blauen Himmel
      Ulli

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  1. auch ich habe dies Buch vor vielen Jahren gelesen (meine Mutter hatte es mir geschenkt) und dann später erneut zur Hand genommen. Ich freue mich sehr, dass du es hier besprichst, und kann es wirklich sehr empfehlen. Danke von Herzen! Gerda

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  2. Liebe Ulli,
    ❤Dank für diesen wertvollen Buchtip!
    Das Leben ist schön, dieser Film ist so außergewöhnlich, wenn man das sagen darf, schön, weil er das Herz auf ganz besondere Weise berührt! Trotz der ganzen Tragik und Dramatik vergisst man das Schöne dabei niemals!
    Es ist ein Film, den man niemals vergisst!

    Danke Dir für diesen Beitrag!

    ❤Grüße Babsi

    Gefällt 1 Person

  3. Es muß ein wunderbares Buch sein, liebe Ulli
    Alleine diese Worte hätten schon ausgereicht, um es zu wissen:

    Angst ist der echte Name für die Verzweiflung

    Und diese: Denn Angst tötet, Freude aber schenkt Leben

    Danke für diesen wundervollen Tip und liebe Grüße von mir

    Gefällt 2 Personen

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