Blaue Stunde #19

Es ist lange her, bald zwei Jahre, um genau zu sein, dass ich einen Text im Sinne der Blauen Stunden schrieb. Blaue Stunden sind Momentaufnahmen in einem Gedankenfluss. Jetzt ist wieder diese Zeit!

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Reisen

Eine Krähe krächzt, das Radio tönt in der Küche unter mir, sonst nichts. Der schneeschwere Himmel entlässt einzeln tänzelnde Schwebeflöckchen, die sich auf ihre schmelzenden Schwestern legen, nahe am Boden, unter dem Gräser und Blumen noch Winter schlafen. Manchmal singen einige Vögel, manche verlieren erste Federn. Heute nicht.

Nicht nur Gehörnte sind zäh, die Wintervögel sind es auch, die Krähen, Meisen, Dompfaffe und Grünfinken, das Rabenpaar vom Dorf nebenan. Sie überleben Schnee und Eis und die eine und andere Katze.

Ich kann viel über Seelenwege schreiben, aber wenig über Vögel und ihre Überlebensstrategien. Ob ich mehr über Bahnhöfe schreiben kann, als das, was schon Viele vor mir geschrieben haben?

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Persönliche Augenblicke ziehen vorüber, Zugvögel gleich, aber jetzt habe ich schon länger keinen Bahnhof mehr betreten. Ich fotografierte stillgelegte Gleise und verrottende Waggons. Der Charme der Vergänglichkeit, die Hoffnung auf Ankunft und Wiederkehr und die alles bestimmende Bahnhofsuhr. Überall.

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Es war die Ankunft der Eisenbahnen in der Welt, die die Zeit synchronisierten. Eigentlich noch nicht so lange her! Gleichschaltungen, Völker verlieren ihre Trachten, Menschen ihre Gesichter, ein Elefant ist ein Elefant. Er sollte nicht aussterben! Aus-sterben … ganze Arten haben sich schon ins Aus gestorben, jetzt sollen die Elefanten, Wale und Schmetterlinge an der Reihe sein, ja, auch Bienen und Spatzen. Nur die Menschen vermehren sich weiterhin wie die Karnickel.

Ja, ich weiß, das sollte ich besser nicht schreiben, weil es Gründe hat, sogar verständliche, aber so weitergehen kann es auch nicht! Territorialkämpfe und Kolateralschäden, Menschenware und Arbeitskraft, noch drehen die Bahnhofsuhren Sekunden, Minuten und Stunden im Kreis.

Vorsicht an Gleis drei, der Zug nach Paris fährt jetzt ab, bitte treten Sie von der Bahnsteigkante zurück. Pfiff, Signal hoch, Türen knallen, der Zug nimmt Fahrt auf, wischt an mir vorbei bis zu seinen Rücklichtern, bis auch sie hinter der alles verschluckenden Linkskurve verschwinden. Das ist der Moment der kurzen Stille, des Blicks bis zur Linkskurve, den sich verzweigenden Gleisen entlang, zurück zu der weißen Linie vor der Kante, wo ich wie festgefroren stehe. Du sitzt in Richtung Paris, ich gehe Richtung Ausgang.

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Es sind die immer gleichen Uhren an nahezu immer gleichen Bahnhöfen, nur in den Städten bemühte man sich um Individualität (und in Uelzen), um Sack- und Durchfahrtsbahnhöfe mit und ohne Kuppeldach. Das Prozedere bleibt sich immer gleich. Abfahrt oder Ankunft, Freude oder Schmerz, Tränen gerne bei beiden, Blumen auch und Küsse, Umarmungen, gute Wünsche, schöne Grüße, Danke, Auf Wiedersehen.

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Ich stehe auf Gleis 7. In wenigen Minuten wird der Zug nach Trondheim einfahren. Ich habe einen großen und einen kleinen Rucksack, mein Ticket in der Jackeninnentasche. Oslo – Malmö – Berlin, wenn ich rückwärts schaue. Jetzt Trondheim – Bodø, dann Schiff, dann Moskenes, dann Bus, dann  Å. Je nördlicher ich komme, umso einsilbiger erscheinen die Orte auf meiner inneren Reisekarte. Schon in Malmö habe ich meine grüne Kappe verloren.

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© visitnorway.de

Ich reise allein, ich reise weil ich reisen will, Ziele kommen von Ort zu Ort und ich fahre möglichst auch nie noch einmal irgendwohin, wo ich schon einmal gewesen bin, nicht in fremden Ländern. Dazu erscheint mir die Welt zu groß und das Leben zu kostbar.

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Ich erinnere mich gut an den Bahnhof in Oslo, in Trondheim, in Bodø ist er mir weggerutscht, ich sehe den Hafen, die Fähre, den Fjord, den Bus in Moskenes. Ich weiß noch immer wie mein Zimmer in Å gerochen hat … nach Backstube. Herrlich war das!

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Stamsund Jugendherberge ©https://www.hihostels.com

Später in Stamsund, wo es die beste Jugendherberge ever gibt (wenigstens damals), schaute ich in ein verstaubtes Schaufenster, sah diese alte, schwarze, schöne Schreibmaschine. Ich sah mich ein leeres Blatt Papier zwischen ihre Rollen klemmen, hörte ihr Klickerdiklack, Worte füllten das unbeschriebene Blatt. Das war so ein Moment!

Von hier fuhr ich mit der Fähre ein paar Tage später Richtung Trondheim, dann wieder Zug. Ankunft um Mitternacht, irgendwo auf dem Weg nach Jotunheimen. Der Bus fuhr erst am nächsten Morgen. Meine zweite Nacht allein unter freiem Himmel, dieses Mal auf einer kleinen Lichtung, hier würde mich höchstens ein Reh ansehen. Nein, mich sahen Walderdbeeren am Morgen an, Hunderte. Ich lächelte. Ich lag da, Auge in Auge mit den kleinen, roten Beeren. Zu schön, um aufzustehen, um geschäftig zu werden.

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Später ging ich walderdbeerenlächelnd und heidelbeerenessend zum Busbahnhof. Dieselbe Uhr, es war noch Zeit. Zeit für einen Kaffee oder zwei.

Bahnhof Zoo und Schlesisches Tor, das waren meine Bahnhöfe daheim. Hunderte Male oder waren es tausend Male: Halle – Treppe hoch – Abfahrt: zurück bleiben bitte…

Manchmal blieb ich zurück, stand auf Gleisen, ging Richtung Ausgang – Treppen runter – Halle – raus auf die Straße, kein Taxi. Abfahrt, Durchreise, durch Länder, Wiesen, Felder, Wälder, Berge, Dörfer, Städte, an Seen, Flüssen, Fjorden, Wasserfällen und Meeren vorbei. Ich bin keine Sesshafte. Dafür ist die Welt zu groß und das Leben zu kostbar.

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Ich mag Orte für die Wiederkehr. Orte, die Namen, Größen und Landschaften im Fluss der Zeiten gewechselt haben. Menschen leben überall. Elefanten nicht. Dass ausgerechnet jetzt wieder die Bahnhöfe auftauchen… Aber ganz ehrlich? Mich interessiert gerade weder Prag, noch ein Zirkus, ich mag keine dressierten Tiere, ich mag Jokkmokk. Dahin sollte mein Zug jetzt fahren, Polarlichter sehen.

Zug fahren, die Landschaft vor dem Fenster verändert sich langsam, Menschen steigen ein, steigen aus, gegenseitiges Betrachten, hier und da werden Worte gewechselt, früher auch Geld. Europa, der alte Kontinent, der nun darum ringt seine Vielvölkerei gleichzuschalten, zu einem Takt von Gewinn und Verlust. In England und Griechenland ticken andere Uhrzeiten.

Synchronisation kann nicht anders, als immer wieder aus dem Takt zu geraten. Momente des Chaos. Kein Uhrwerk dreht sich ewiglich, nur der Zeit ist das egal. Der Morgen rötet sich, der Tag bricht an, nimmt seinen Lauf, senkt sich in die Abenddämmerung, ruht still in seiner Nacht. So geht das seit Millionen Jahren. Ankunft, Sein, Aufbruch, weg, Tage, Monate, Jahre in Jahreszeiten, du, ich.

Menschen zähmen Tiere, Pflanzen, Kinder und die Zeit. Menschen rennen, leiden, wehren sich, kommen zu spät, zu früh oder pünktlich, sie eilen, sie schlendern, ticken mit dem Fuß einen Takt mit Tempi in Asphalt und Erden. Sie tun. Sind sie?

Sein also, an einem Nachmittag im Februar auf dem stillen Winterberg, jetzt ohne einen Ton. Das sind die in Watte gepackten Tage, in denen kein Wind zum Fenster hinein singt, an dem nichts passiert, wenn ich still in ihm verharre. Dann höre ich ein Klickerdiklack und gehe auf  Erinnerungsreisen. Das sind so Momente!

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Bahnhof auf dem Abstellgleis – station on siding

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stündlich fährt noch die Bahn von Seebrugg nach Freiburg und umgekehrt, alle anderen Gleise sind tot, alte Züge abgestellt und vergessen, eine herrliche Kulisse, um mit der Kamera zwischen den Waggons herumzukrabbeln, keine Gefahr!

danke auch an Mützefalterin für die Inspiration,  sie widmet sich schon länger dem Thema Bahnhof

hourly trains are driving from Seebrugg to Freiburg and the other way round, all the others tracks are dead, old trains got parked and forgetten, a wonderful scene to go around between the wagons with the camera, no danger!

außerdem gibt es heute wieder ein Straßenbild von mir bei pixartix zu sehen …