so ging es lange Zeit …

Dunkelheit. Nichts war, nur ungeformte Leere und Stille, eine lange Zeit … bis sich aus dem Tief heraus ein Ton gebar, tief und dunkel schwang er die Leere. Und gerade dort, wo er entstanden war, wurde es ein bisschen hell. Ein Lichtlein wuchs. Zuerst war es nur ein winziger Funke, aber rasch wurde er groß und größer, bis er das Ur überstrahlte, gemeinsam formten sie die Welten … Ton und Licht. Nur wenn sie ruhten, wurde es wieder still und dunkel, wie zuvor.

Nun gab es den Tag, erhellt vom Licht, durchdrungen vom Klang, und die Nacht, dunkel und still.

Es war ein Kreisen um sich selbst und später über sich hinaus. Wann immer der Ton erscholl, erstrahlte das Licht, zusammen waren sie Liebe. Gemeinsam erschufen sie das Universum. Jeder Stern, jede Sonne ein Teil des Lichts.

Aus Freude und Liebe gebaren sie Form um Form, Element um Element, Wesen um Wesen, unzählbar in ihrer Gestalt:  Steine, Berge, Felsen, Wiesen, Moose, Flechten, Blumen, Tiere, Wasser, Feuer, Bäume, Meere, Flüsse, den Wind und … Das Licht schenkte ihnen Kraft und Wachstum, der Ton einem jeden den eigenen Klang. Und es war gut. So ging es lange Zeit …

Die Liebe und die Freude wohnten in allem und in jedem noch so kleinen Ding. Längst schon gebaren die Formen von sich aus neue Formen, so erschien auch die Erde und später der Mensch auf ihr. Noch war alles Freude, Liebe und Harmonie. Die Menschen lebten in Einheit mit den Wesen, sangen und sprachen mit ihnen, auch mit den Sternen, dem Licht und dem Ton. Groß war ihr Gesang. Auch sie waren Liebe, noch gab es keine Unterschiede. Gesang und Liebe am Tag, Stille und Frieden in der Nacht. So ging es lange Zeit …

Es staunten die Menschen. Groß war ihre Ehrfurcht und Demut im Angesicht des Wunders Leben, das sie, so sehr sie sich auch bemühten, nicht erklären konnten. Da schufen sie aus Dank Göttinnen und Götter, ihnen oder den Tieren gleich. Sie schmückten sie mit Blumen und brachten Opfergaben dar, überall auf dem Erdenball. Jede Göttin, jeder Gott ein Abbild des Landes, wo sie erschaffen wurden und die Menschen hauchten ihnen eine Seele und Leben ein. Manche wohnten im Himmel, andere in Bäumen, wieder andere im Meer. Auch gab es solche, die das Feuer bewachten, die es regnen ließen und den Wind kommen. Alles zu seiner Zeit. Und es war gut, bis …

50 göttInnen

„Vorurteile und falsche Vorstellungen trennen die Menschen“, nahm John wieder das Wort. „Am schlimmsten aber ist, dass jedes Volk glaubt, auf die einzig richtige Art zu leben, allen anderen Völkern das aber bestreitet. An sich ist das harmlos, wenn nicht gar nützlich, weil sich dadurch die Ordnung innerhalb der Gesellschaft festigt. Doch wenn ein Volk versucht, seine Lebensweise anderen Völkern aufzuzwingen, ist es schlecht … Wenn du die blutige Geschichte unserer zivilisierten Welt kennen würdest, mein lieber Orwo!“
„Unser Leben hat niemand zu ändern versucht“, meinte der Alte.
„Wollte man nicht eure Götter austauschen?“, fragte John. „Ich kenne das Leben der Eskimos und Indianer in Nordamerika. Unsere großen Schamanen, Diener des weißen Gottes, träumen davon, die >Wilden<, wie sie die Eskimos und Indianer nennen, zu ihrem Glauben zu bekehren.“
„Ja, unsere Götter wollte man gegen andere vertauschen“, gab Orwo zu. „Bärtige russische Schamanen besuchten die Nomadenlager und verteilten Metallkreuze und weiße Hemden. Dafür musste man ins Wasser tauchen und den Gott der Weißen als den seinen anerkennen … Viele haben es getan.“ „Was?“, staunte John. „Dann seid ihr Christen?“
„Warum sollten wir ihn nicht anerkennen“, fuhr Orwo fort. „Das Metall der Kreuze, aus denen man Angelhaken machen konnte, war damals schwer zu haben. Außerdem bekamen die Erwachsenen ein ganzes Bündel Blättertabak. Weshalb also dafür den weißen Gott nicht anerkennen? Meine Stammesgenossen taten es. >Warum soll es nicht auch einen solchen Gott geben?< sagten sie, stellten ihn neben ihre Götter und richteten genauso Gebete an ihn. >Wenn der Gott, den sie uns gebracht haben, allmächtig, allwissend und gnädig ist<, überlegten sie, >wird er gewiss nicht die aus ihren Behausungen verjagen, die ihn anerkennen.< So lebte dieser Gott eine Zeitlang mit den unseren zusammen, bis man ihn vergaß. Nutzen brachte er allerdings keinen, denn er kannte weder unser Leben, unser Land, noch das Meer oder die Rentiere. Außerdem vertrug er unsere Nahrung nicht.“
„Was denn?“, wunderte sich John. „Ihr habt ihn auch noch ernährt?“
„Selbstverständlich“, meinte Orwo. „Auch ein Gott hat Hunger. Aber Speck und Blut zerfraßen das Papier, sodass vom heiligen Antlitz bald nur noch Fetzen übrig waren. Die hölzernen Götter, die einige erhalten hatten, hielten sich länger, doch dann entfernte man auch sie und gab sie den Kindern zum spielen.“
Obwohl John nicht gläubig war, berührte ihn dieses Verhältnis zur Religion doch etwas unangenehm. Nicht ohne die geheime Absicht, Orwo in Verlegenheit zu bringen, fragte er: „Und was würdest du sagen, wenn die Weißen mit euren Göttern genauso umgingen?“
„Vermutlich wären sie im Recht, denn man darf niemand fremde Götter aufzwingen.“

aus dem Buch: Traum im Polarnebel von Juri Rytcheu

18 Gedanken zu „so ging es lange Zeit …

      • es ist noch ein weiter Weg, wenn ich mir gerade eben die Welt anschaue, bis die Menschheit gelernt hat den/die andere einfach anders sein zu lassen … gehen wir eben voran 🙂

        herzlichst Ulli

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    • Juri Rytcheu, auf dessen „e“ eigentlich noch zwei Punkte gehören, die ich aber mit meiner Tastatur nicht schreiben kann, ist Tschuktsche, er wurde auf dieser Halbinsel im hohen Norden Sibiriens geboren und groß. Lernte lesen und schreiben, auch russisch und hat ziemlich viele Bücher geschrieben … ich fand ihn zufällig und mochte das Buch: Traum im Polarnebel sehr- er ist ein schlichter Erzähler, aber gerade in diesem Schlichten fand ich viel Wahrheit.
      Schön, dass dir auch mein Text gefällt 🙂
      herzliche Grüße Ulli

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  1. Ich finde Deine Geschichte, das Bild und das Zitat dazu sehr beeindruckend. Das alles lässt mich ein wenig stumm werden und macht mir bewusst, wie sehr wir dazu neigen, den Ton nicht mehr zu hören sondern das Trennende zu sehen.
    Deine Geschichte und das Bild bringen in mir viel zum Klingen, ich danke Dir dafür.

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    • es freut mich, liebe Kreadiv, dass meine Geschichte und die von Juri Rytcheu etwas in dir zum klingen gebracht hat … ich finde es ist an der Zeit das Verbindende zu finden, als sich ständig am Trennenden aufzuhalten, was es natürlich zweifelsohne gibt … aber vielleicht kann man es einfach lernen also solches zu betrachten- im kleinen, wie im großen
      herzlichst
      Ulli

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  2. Liebe Ulli,
    Juri Rytcheu gehört zu meinen Lieblingsautoren, den ich immer wieder gerne lese. Du hast da eine feine Stelle aus seinen Büchern herausgepickt, die fein die Pragmatik der polaren Völker zeigt. Rytcheu ist der einzige Autor der Tschutschken. Dieses Volk hatte mit Amundsen Kontakt, als er auf seiner Bezwingung der NO-Passage vor deren Küste überwinterte. Rytcheu beschreibt das in einem seiner Romane. Wer einen genuinen Einblick in das Leben der polaren Völker Russlands bekommen möchte, dem seien die Bücher dieses Autors empfohlen, dessen Gesamtwerk in deutscher Sprache bei Züricher Unionsverlag erschien.
    Danke für die Vorstellung dieses großen Autors vom Ende der Welt
    Klausbernd und seine Buchfeen Siri und Selma

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    • lieber Klausbernd,

      ich war gespannt, ob du ihn kennst. beim Artikel habe ich vergessen Fortsetzung folgt zu schreiben, denn ich wollte das Buch und den Autor tatsächlich noch etwas ausführlicher besprechen.
      Diese Passage, die ich zitiert habe, sprang mir so ins Auge oder wars ins Hirn – lach 😉 und als ich dann das Gespräch zwischen dir und Sherry auf ihrem Blog las, dachte ich, dass es an der Zeit wäre meine kleine eigene Schöpfungsgeschichte mit der Passage zu verbinden.

      hab einen feinen Abend und grüße deine Lieben von mir
      herzlichst Ulli

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    • ihr zwei Lieben, wie ich gerade schon an Klausbernd schrieb, ich vergaß unter den Artikel Fortsetzung folgt zu schreiben, denn ich wollte Autor und Buch noch gesondert vorstellen …
      freut mich, dass es auf Interesse stößt

      habts fein
      herzlichst Ulli

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  3. Es ist nicht meine Welt……………und trotzdem gefällt mir das Zitat und das Drumherum einschließlich der Kommentare- ein bisschen wie mit ähnlich Gesinnten um ein virtuelles Lagerfeuer sitzen….

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    • Liebe Gerda, es ist lange her, dass die Menschen das Paradies verliessen, Dualität und Wertungen scheinen zwei der Fallen gewesen zu sein, es ist bestimmt noch mehr, aber das würde jetzt hier den Rahmen sprengen, ja, manchmal schmerzt es mich, aber dann fühle ich mich auch wieder gerufen, in diesen Zustand zurückzukehren, um ein kleines bisschen Licht in diese dunkel gewordene Welt zu tragen. Und dann weiss ich, ich bin nicht allein…
      Ich denke auch an das kleine Kloster von dem du gestern berichtet hast, ob dies oder ein Berg oder ein See oder … es sind die Orte, an denen wir Stille und Frieden finden können, um uns dann mit fischem reinen Klang erneut der Welt zuzuwenden, es ist, wie es ist.
      Herzliche Sonntagmorgengrüsse an dich, und danke, dass du mich an diesen Artikel erinnert hast!
      Ulli

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  4. Pingback: Ostschild |

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