Flüstern

Ein Wiedersehen mit dem Halbnorweger aus längst verflossener Zeit. Unerwartet, vielleicht ersehnt, früher ja. In diesen Tagen hat sie schon lange nicht mehr an ihn gedacht.

Jetzt liegen sie sich in den Armen. Kein Blatt Papier passt mehr zwischen ihre Körper. Sie halten sich. Sanft und wortlos, eine lange Zeit. Sie beginnen miteinander zu flüstern. Jedes laute Wort würde ihre Körper voneinander wegtreiben. Das ahnen sie. Das wollen sie nicht. Er nicht und sie schon gar nicht.

Sie hat oft an ihn gedacht, in der zerrinnenden Zeit. Sie hat sich gefragt und war dankbar. Immer. Er hat ihr die Tür geöffnet. Damals, als sie noch klein gewesen ist. Er hatte sie an die Hand genommen. Sie lernte das Staunen. Die Welt der neuen Künste machte ihre Welt groß. Unendlich wie das Meer und ebenso tief. Sie ist dankbar, immer, er hat ihre Welt reich gemacht.

Ihre Leben drifteten auseinander. Bis heute, bis zu diesem Augenblick, in dem sie sich umarmen. In dem sie erst einmal schweigen, dann flüstern. Es war nicht leicht mich in meinem Leben neu einzurichten, nach den Jahrzehnten der Zweisamkeit, flüstert er. Sie nickt an seiner Brust. Sie flüstert, ich weiß, wovon du sprichst.

Sie lassen sich nicht los, sinken miteinander auf irgendein Bett, unter irgendeine Decke. Zärtlich streichen ihre Finger über seine. Immer wieder. Sanft hält er sie, streicht mit seinen Fingern über ihre.

Manchmal muss sie ihren Kopf leicht anheben. Sie liest die verflossende Zeit in seinem Gesicht; erkundet seine Falten, die traurigen, die fröhlichen, die Lebenseinschläge. Ewig möchten sie so liegen, möchten miteinander flüstern, sich sanft halten, das leise, zärtliche Miteinander halten.

Es kommt jemand dazwischen. Immer kommt Jemand. Sie driften erneut auseinander.

Es war einmal, flüstert sie. Behutsam nimmt sie den gerade vergangenen Augenblick zwischen ihre zärtlichen Hände und geht mit ihm zu der Wurzel des uralten Baums. Zwischen den Maiglöckchen leuchtet die rote Lackschachtel, hier hinein legt sie diesen Moment.

Sie möchte ihm schreiben, ihn anrufen, möchte flüstern, ich habe von dir geträumt. Und weil es ein schöner Traum gewesen ist, möchte ich dir etwas schenken. Etwas Kleines, etwas Liebes, etwas Leises – für deine Schatzkiste. Dann hätte sich der Kreis geschlossen. Nichts bliebe am Ende offen. So ließe es sich ohne Bedauern sterben.

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