Ostschild

Frühling ist es geworden. Nicht mit den ersehnten Temperaturen. Und doch… ist es Frühling auf dem Berg geworden. Fast über Nacht.

Frischzarte Grüntöne, wohin das Auge schaut. Ungezählt und unbenannt. Geschmückt mit den gelben Sonnen des Löwenzahns, den weißrosa Blüten der Apfelbäume, dem Weiß der Pflaumen- und Birnbäume. Den hell- bis dunkellilavioletten Fliedertönen auf der Wiese und am Busch selbst. Dunkel- bis hellrosa Lichtnelken wippen im vielzähligen Grün. Ackerveilchen und Gänseblum, zahlreich vorhanden und doch so bescheiden. Ehrenpreis und Vergissmeinicht sind Cousin und Cousine. Heute sah ich das erste Knabenkraut. Blühender Kerbel neben den Sumpfdottergelben, immer noch…

Gleichzeitigkeit ist ein Wort, dass mir in den letzten Tagen immer wieder durch den Kopf geht. Hier oben ist in diesem Jahr viel Gleichzeitigkeit. Sonst blühen erst die Sumpfdotters und dann erst die Lichtnelken… zum Beispiel.
Kein Frühjahr gleicht dem vorangegangem, wie auch kein Sommer sich selbst im Gestern, kein Herbst, kein Winter…
In diesem Frühjahr, gerade eben, frage ich mich: wie kann ich eigentlich im Winter manchmal vergessen? Wie das Vertrauen auf ewigliche Erneuerung im gleichzeitig ewigen Sterben verlieren? Sonderbar.
Farben sammeln, Gerüche, Bilder, Blüten, Blätter, Kraut und Früchte, das tue ich in jedem Jahr. Und doch scheint Winter, Jahr für Jahr, sie irgendwann, ganz und gar vertilgt zu haben. So darf ich also jedes Jahr aufs Neue staunen. Mich freuen. Blumenkränze winden und über die Bäche springen. Blüten, Blätter, Kraut und Früchte sammeln. Samen habe ich schon einige gesät. Einige andere werden noch folgen. Das heilige Eis muss noch endgültig weichen. Ostwind bläst. Frühling. Ostwind. Ostschild. Das ist schon eine besondere Qualität. Sie singt vom Aufbruch. Von Ekstase. Vom Wunder der Geburt und der Vielfalt. Sie lässt ehrfürchtig staunen. Vielleicht sogar an Göttin oder Gott denken. Zumindest aber stupst sie meine Nase auf das Wunder. Das Wunder Leben. Kein Leben ohne sterben. Ja. Aber gerade eben geht es um Leben, nichts als Leben. Für mich.

Aufgepasst! Da gibt es noch den Narren. Der ist es, der die eisigen Heiligen schickt. Schnell wieder die Wollsocken aus der Kiste gekramt und den Schal doch noch einmal um den Hals gewickelt! Ostwindstürme blasen kalt. Zeit noch einmal das Hausfeuer zu schüren. Und das ist nur eine seiner vielen Narreteien…
Wo Wunder/Göttliches wohnt, muss Narr einfach um die Ecke schielen. Das eine nicht ohne das andere.

Gestern las ich in dem Buch „Die vier Schilde“ von Steven Forster & Meredith Little das Kapitel zum Osten und fand folgendes:

„Würden die Pforten der Wahrnehmung gereinigt,
erschiene dem Menschen jedes Ding so, wie es ist,
endlos.“ William Blake, Die Hochzeit von Himmel und Hölle

„So stirbt unser menschliches Leben nur seiner Wurzel zu und streckt seine grüne Klinge noch der Ewigkeit entgegen…“ Walter Thoreau

„Die aufgehende Sonne rührt das Herz des Pilgers mit Träumen vom Aufbruch zu einem neuen Leben.“ Steven Forster

hier musste ich unwillkürlich an Irgendlink und seine Reise denken… wen wunderts! juhu… ich winke dir zu:

„Doch ein Verlangen überkommt ihn, über das Wasser hin zu fahren.
Zur Frucht wird die Blüte, die Schönheit der Beeren erscheint,
je schöner die Flur je leichter die Reise,
all das ruft nach dem Menschen kühnen Gemüts,
dem Reisen fliegt sein Herz zu, schon zieht er in Gedanken
auf Meeresfluten in die weite, weite Ferne.“ The Seafarer nach Ezra Pound

„…Die hellste Beleuchtung bringt die tiefsten Schatten hervor.
Lichtvolle Einsicht setzt einen früheren Zusatnd der Blindheit voraus….“ Steven Forster

5 Gedanken zu „Ostschild

  1. Die Gleichzeitigkeit fiel mir im letzten Jahr auf: Forsythien und Flieder blühten um die Wette. Kupfert die Natur das bei uns ab? Früher hieße es „mach mal schön eins nach dem anderen“, heute will alles gleichzeitig geschafft werden.

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  2. Pingback: Ostschild |

    • Guten Morgen, liebe Ruth, nun habe ich eine Gänsehaut und fühle mich und mein Tun sehr geehrt! Inspiration zu sein, das ist großartig und freut mich gerade riesig.
      Hab herzlichen Dank dafür! ❤ – komm gut in die neue Woche, liebe Grüße, Ulli

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