Frauenschicksale

Kurz vor Weihnachten fand ich auf einem Bücherwühltisch ein Buch von Margaret Atwood: alias Grace. Auf der Rückseite des Buches steht: die Scheherazade von Kanada. Und wirklich, erzählen kann sie! Das fand ich schon immer …

alias graceDie Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit, sie spielt im Toronto der Mitte achtzehnhunderter Jahre. Grace, in Irland geboren, verlässt mit ihren Eltern das Land, um in Kanada ihr Glück zu versuchen, das ihnen in Irland nicht holt war. Doch schon auf der Überfahrt stirbt die Mutter und Grace muss sich fortan um die kleineren Geschwister kümmern und mit dem Alkoholkonsum des Vaters klarkommen, sowie seiner ewigen Arbeitslosigkeit.

Mit vierzehn oder fünfzehn Jahren nimmt sie eine erste Stelle im Haushalt an und so wird es ihr Leben lang bleiben, selbst im Gefängnis, in dem sie mit sechzehn Jahren landet. Angeklagt des Doppelmordes an ihrem Arbeitgeber und seiner heimlichen Geliebten wird sie für schuldig befunden, dient sie fortan der Gefängnisdirektorenfamilie. Dort wird sie geschätzt für ihre stille Art und ihre feinen Näharbeiten und für unschuldig gehalten.

Die Frage, ob Grace schuldig oder unschuldig ins Gefängnis kam, bleibt bis zum Schluss offen, im Buch, wie im wirklichen Leben.

Was mich immer wieder in seinen Bann zieht, ist das Schicksal von unzähligen Frauen, wie sie rackern und schuften und selten ein Lob ernten, geschweige denn eine angemessene Bezahlung, aber unglaublich viele schmerzende Beschimpfungen. Das Wort Hure, damals, wie heute als Schimpfwort benutzt, war auch in diesen Zeiten in vielen Mündern und tat doch nur Unrecht. Grace hatte keine Chance und doch nutzte sie die wenigen freudigen Momente in ihrem Leben, um zu lernen, zu beobachten und ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Verbündete fand sie in der Direktorenfamilie, in dem Arzt Simon, der die Frage nach Schuld und Unschuld mit damalig modernen psychologischen Methoden zu ergründen sucht.

Lachen, Mut, Freude und Freundschaft findet sie in einem illustren Hausierer, sowie in ihrer Mitstreiterin Mary Whitney, bis diese frühzeitig stirbt.

In dem Buch Deutschenkind von Herbjoerg Wassmo las ich folgendes:

deutschenkind

Aber Rakel saß abends nach dem Rundgang im Stall  häufig allein mit der Zeitung.
Eines Tages las sie, dass ein Kirchenmann sich gegen weibliche Geistliche ausgesprochen hatte.
Rakel fand es unmöglich, dass erwachsene Geistliche nichts anderes zu tun hatten, als sich um so etwas zu kümmern, wo es doch so viel Elend in der Welt gab. Sie müssten eigentlich vor lauter Umherrennen und Trösten und Helfen ganz atemlos und verschwitzt sein. Jesus hatte niemals ein böses Wort über Frauen gesagt, auch wenn sie Huren waren, das hatte sie selbst in der Bibel gelesen. Dann fielen ihre Augen auf die Buchspalte: „Die Frauen sind die Hoffnung“, stand da.

„Der amerikanische Ethnograph Montagu hat ein Buch darüber geschrieben, dass die Frau praktisch der Übermann des Mannes ist. Sie hat mehr Lebensfreude, weniger physische Mängel, weniger Erbkrankheiten, größere Widerstandskraft gegen physische Schmerzen und eine besser entwickelte Intelligenz. Die Frauen sind sogar fähigere Autofahrer. Der Mann weiß um seine Unterlegenheit und entwickelt Herrschereigenschaften, um sich zu rächen. Das Muskelsystem ist bei ihm bestens ausgebildet. Deswegen haben wir auch den Krieg – die spezielle Erfüllung des Mannes -, während den Frauen für den Krieg wichtige Eigenschaften fehlen. Man muss mit jeder Generation die Welt einen Zollbreit vorwärts bewegen. Die Frauen geben Leben. Versagen die Frauen, ist alle Hoffnung für die Menschheit geschwunden.“

Rakel nickt, während sie liest. Endlich gehen der Welt die Augen auf! Nein, sie wird gewiss nicht versagen! Aber was ist ein Ethnograph?, denkt sie irritiert. Rakel ärgert sich oft über alles, was sie nicht weiß, über Wörter, die sie nicht versteht. Aber dass die Frauen keine für den Krieg wichtigen Eigenschaften mitbringen, das ist ihrer Meinung nach nicht richtig. Rakel spürt, dass sie zum Krieg bereit ist, wenn es sein muss. Es gibt ja so viele Arten von Waffen.
Und von einer Kanzel und auch von einem Altar, da würde sie ganz sicher einen Speer oder zwei ins Ziel werfen.“

Mut brauchte und braucht es, um in der Welt als Frau den Kopf oben zu behalten. Wenige nur hatten und haben – weltweit gesehen – an Bildung teil, die meisten verding(t)en sich als Haushälterin, Köchin, Magd, Näherin oder als Fabrikarbeiterin, wie die Schwester von Rakel, der Mutter von Tora, Tora, das Deutschenkind …

Gemeinsam mit Grace ist Tora die Armut und ein mehrheitlich freudloses Dasein. Mut und Humor findet sie bei ihrer Tante Rakel, Tiefe und Freundschaft in dem stummen jungen Frits. Und so, denke ich, ist bei allem Trübsinn doch immer noch wenigstens eine/einer, die oder der Freude, Wärme und Lachen schenkt …

Deutschenkind spielt in den Neunzehnhundertfünfziger Jahren, im hohen Norden von Norwegen. Hart ist das Leben, das vom Fischfang abhängt. Nur bei den wenigsten regiert nicht Schmalhans Küchenmeister. Und Männer spielen, wie auch im Buch von Grace, eine eher unrühmliche Rolle.

Tora ist ein Besatzungskind, ihren deutschen Vater wird sie nie kennenlernen. Über ihn wird geschwiegen, bis Rakel dieses Schweigen bricht. Das Mädchen wird gehänselt und spürt täglich die Ablehnung. Groß ist der Hass der Inselbewohner auf die einstige Besatzungsmacht. Schlimmer aber noch als dieses ist die Gefahr-
Die Gefahr, die ihr Stiefvater für sie ist. Auch er ein Tunichtgut, ein Säufer. Ihre Mutter schuftet in der Fischfabrik und geht putzen, für das Mehl, woraus sie ihr Brot backen.

Es ist ein düsterer Roman, der mich nicht nur einmal hat erschauern lassen. Das Titelbild trifft das Bild von Tora, so wie es sich beim Lesen in mich hinein webte. Großartig ist, wie Frau Wassmo Worte für das schier Unaussprechliche gefunden hat. Schon in der Trilogie Dina (s. hierzu meinen Artikel vom 13.06.12) habe ich ihre Sprache bewundert und genossen.

Die Rache des Mannes an den Frauen … Beschimpfungen und häusliche Gewalt ist die Antwort. Gewalt, die zahllose Frauen verstummen ließ und lässt.

1840iger, 1950iger Jahre, 2013 …

Ich denke auch an die Bücher von Kristin Marija Baldursdottir: Die Eismalerin und ihre Fortsetzung: Die Farben der Insel …

eismalerin

eismalerin 2

Die Geschichte nimmt ihren Lauf in den frühen neunzehnhunderter Jahren und spielt in Island. Hier geht es um den Kampf einer Frau, die aus vollstem Herzen Malerin ist. Aber durch die Liebe, die einen sehr eigenen Weg geht, und die Geburt der Kinder, wird sie auf die Rolle als Mutter und Hausfrau zurückgeworfen. Ihre Seele schreit und letztendlich setzt sich die Malerin durch. Zäh ist sie, erst im hohen Lebensalter kommt die lang erhoffte und ersehnte Anerkennung.

Die Performancekünstlerin Marina Abramovic (siehe Mützenfalterin, Sherry und Susanne Haun) sagt unter anderem in ihrem Manifest:

„Künstlerinnen müssen Kriegerinnen sein …“

Wie schon Rakel feststellte: Es gibt ja so viele Arten von Waffen …

Immer noch bestimmen Männer in Literatur und Kunst das Bild, auch wenn sich in den letzten Jahrzehnten so einiges bewegt hat. Immer noch ist häusliche Gewalt, vornehmlich von Männern ausgeübt, an der Tagesordnung, hier, wie überall in der Welt. Immer noch ist Hure ein Schimpfwort, immer noch verdienen Frauen in selben Positionen weniger als ihre männlichen Mitstreiter, immer noch gilt es der Welt die Augen zu öffnen, dass Frauen, wenn auch vielleicht nicht besser, so aber zumindest gleichwertig anzusehen sind.

Und ich denke auch an all die Frauen, die Heldinnen waren, so wie meine Großmutter, die ihre Familie durch den Krieg brachte, meine Mutter und ihren frisch geborenen Sohn durch die Wirren von Kriegsende und Flucht sicher begleitete. Ihr Name, so wie der von tausend und mehr Frauen dieser Generation, fand auf keinem Denkmal Platz (Ausnahmen sind die Denkmäler in Berlin, Dresden und Chemnitz, die an die namenlosen Trümmerfrauen erinnern).

Wie sie es schafften, bei all der Unbill des Lebens, Humor zu bewahren, Kraft und Ausdauer für ihre Begabung, das lässt mich wieder und wieder meinen Hut vor ihnen ziehen! Aber leider war nicht jeder vergönnt ihre Kunst wirklich auszuleben und in die Welt zu tragen. So geschah es auch meiner Großmutter, die in jungen Jahren das Kunsthandwerk studierte. Zwei Kriege und später die Sorge um die Familie machten ihr einen dicken Strick durch die Rechnung. Für mich war sie die Sonne in unserer Familie, bis sie 1964 starb. Es wird Zeit für ein Denkmal!

für meine Großmutter, stellvertretend für alle Heldinnen der Alletage

30 06.01.13 Heldinnen, für meine Großmutter