Dieses Bild widme ich Elke Engelhardt und ihrem Buch
Wenn der Schnee Gewicht hat
Was zuerst als Paradox erscheint, ist bei näherer Betrachtung eine kleine Schneeflocke, die weniger wiegt als die winzige Daunenfeder eines Pirols im Frühling, die aber, wenn sie sich mit Ihresgleichen paart und stapelt, Hausdächer zum einstürzen bringt. Das ändert kein Wolf, kein Hans, ob groß im Glück oder klein auf einem Bein, das ändert keine rote Kappe, kein Rumpelstilzchen und auch keine Großmutter.
Elke Engelhardt, die Autorin dieses Buches, kennt dieses Paradox. „Sie“ leistet bei der Alten mit den großen Zähnen ihre Dienste, bis der Schnee Gewicht hat. Erst dann wird es Zeit für eine Umkehr, eine Heimkehr mit oder ohne Kieselsteine, aber mit der Frage nach Heimat.
Wenn Märchen anfangen zu sprechen und mehr werden, als böse Hexe, unschuldiges Kind, mehr als gutmütige Zwerge, bösartige Stiefmutter und vergifteter Apfel, mehr als Schneewittchen, Prinz, Hans und Hänschen, dann haben sie Eine (oder Einen) auf ihrem Weg erreicht.
Auf dem Weg nach Innen, mit und ohne Drachentöter, mit und ohne Frosch und König oder Erbsen. Dann durchstreift sie die Tiefen der Wälder in sich, auf der Suche nach dem heiligen Gral. Sie hat dem Wolf ins Auge geschaut und ist weiter gegangen. Sie sah in manchen Spiegel hinein, hindurch und dahinter, sie hat dem siebenten Geißlein gelauscht, das noch springt und die Geschichte wieder und weiter erzählt. Sie fürchtet sich weniger vor den langen Zähnen der Holle, als vor dem Leben oberhalb des Brunnens, in den sie fiel.
Elke Engelhardt fand ihre ProtagonistInnen in den Märchengestalten der Gebrüder Grimm und den Kunstmärchen von Hans Christian Andersen. Sie hat sie sich gegenüber gestellt, sie hat sie verwandelt, in neue Lichter gesetzt, und zu neuem Leben und Sinn erweckt. Sie hat ihre Spiegel zu sich genommen, hat in sie geschaut und ihre Metaphern und Gleichnisse über den eigenen Weg gelegt, Kieselsteinen gleich. Da kann der Wolf noch lange Kreide fressen, sie folgt ihren Spuren.
Ihre Spuren sind die Wörter und der Weg ist nicht eben, es gibt keine Sicherheit und Verirrungen kommen vor. Auf ihrem Weg: Begegnungen. Eine heisst Anne Sexton:
Später dieselben Märchen, diesmal mit mir als Erzählerin und Anne Sexton, die … nach und nach immer mehr neue Fäden in meine Gedanken und in die alten Geschichten spann.
Das Buch von Elke Engelhardt liegt zart und leicht in der Hand und dann entwickelt es von Seite zu Seite sein wahres Gewicht. Es ist eins dieser Bücher, das ich nicht nur einmal lese und dann ins Regal räume, es ist eins, das ich jetzt, nach einmaligem Durchlesen, ab und an wieder aufschlage, wo es gerade will, und schon nehmen mich seine Zeilen wieder ein.
Zwei Rezensionen erschienen auf der Seite von fixpoetry, beide zitieren viel aus dem Buch, sodass ich mich für eine freie und assoziative Besprechung entschieden habe. Wer mehr wissen möchte →
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