Geplant war Ewigkeit – Geschichten vom räudigen Leben

Dem Leben und den Menschen auf’s Maul geschaut – eine Rezension

Geschichten von Andreas Glumm lesen heißt, Jemanden zu lesen,

der mit großen Notizbuchaugen die Welt und seine Bewohner begeistert betrachtet, zuhört und seinen Spaß hat“

S. 359

sagt „Die Gräfin“ oder sagt Glumm, dass es die Gräfin gesagt hat, wer weiß das schon so genau.

Schon lange paaren sich bei mir Erinnerungen, Spaß und Nachdenklichkeit, wenn ich Glumm lese. Zunächst waren es die Geschichten auf seinem Blog 500Beine, später dann auf seinem Blog Glumm – Locker machen für die Hölle https://glumm.wordpress.com/. Jetzt endlich sind einige Geschichten in einem Buch gebündelt – das wurde aber auch Zeit, möchte ich augenzwinkernd sagen.

Glumm hat eine spezielle Art Menschen und Situationen zu beschreiben: ehrlich und schnörkellos beschreibt der Autor, wie er was und wen wahrgenommen hat. Wie und was er selbst gefühlt hat, als zum Beispiel erst die Mutter, dann der Vater gestorben sind, als er dem Tod mal eben von der Schippe gesprungen ist oder die Heroinsucht ihn fest im Griff hatte. Das muss man sich ja erst einmal trauen!

Oliver Driesen schreibt in dem Vorwort zum Buch:

Was liest man da also? Wenn man wie ich schon etwa ein Jahrzehnt dabei ist, dann hat man sich unrettbar in einer Welt festgelesen, die anfangs fremd und doch irgendwann erschreckend vertraut erscheint. In ein runtergerocktes Kleinstadt-Universum voller Typen, die Heinrich Zille in einem Berliner Kiez des Jahres 1900 porträtiert oder vielleicht noch Kurt Tucholsky ebendort 1930 belauscht hätte.

Die Lesenden lernen auch die Frau an Glumms Seite kennen, „Die Gräfin“, wie er sie nennt; mit bürgerlichem Namen „Susanne Eggert“. Die Zeichnung auf dem Buchcover stammt aus ihrer Feder, weitere Zeichnungen finden sich im Buch.

Glumm schaut der Gräfin oft auf den Mund, immer wieder streut er Zitate von ihr in seine Geschichten.

Beim Lesen nehme ich oft ein leichtes Augenzwinkern wahr, an manchen Stellen muss ich lauthals lachen, an anderen wächst ein Kloß im Hals. Das nackte Leben ist eben nicht nur locker und flockig und schon gar nicht, wenn Einer Glumm heißt, ein Suchender geblieben ist und von sich selbst schreibt:

Ich bin Ende fünfzig, aber im Herzen immer noch zehn. Da fehlen allerhand Jahre. Wo sind die alle hin? Wer hat die mitgenommen? Hat die jemand abgeholt und ins eigene Leben eingebaut? Ob derjenige damit durchkommt? Ach soll er doch damit machen, was er will.“

S. 358

– oder –

Ich studiere mein Leben lang Gesichter. Ich bin ein ewiger Gesichtsstudent. Das Gesicht, mit dem man draußen in der Gesellschaft herumläuft und altert, ist ein anderes als das, welches man in sich trägt, das bleibt länger jung. Das hält bis zuletzt.

S. 356-357

Es ist die Mischung, die das Buch von Glumm lesenswert macht. Vielleicht nicht für Jede und Jeden, denn Vorsicht, hier geht es nicht um die schöne, heile Welt, hier geht es um Leben pur, um die Straße, das Kneipenleben, kleine Abenteuer und coole Aktionen, die vielleicht nicht für Jede und Jeden so cool sind. Hier geht es darum, dass Einer dem Leben und den Menschen auf’s Maul geschaut hat und auch um die Liebe, die Liebe zu diesem Leben, mit all seinen Widersprüchen, all seinen Absurditäten, all seinen Höhen und Tiefen.

Für mich als „Bahndamm-Kellerkind“ ist Vieles vertraut und auch der eine und andere Kumpel ist mir nicht fremd. Nie 1:1, aber so ungefähr. Ich denke an meine eigenen wilden Jahre, die durchgemachten Nächte, die Räusche, den Spaß, der manchmal ein jähes Ende fand, denen ein verkaterter Morgen folgte. Glumm erinnert mich an einige meiner Freunde, von denen manche nicht mehr leben und auch an meinen besten Freund, an seine jungen Jahre und seinen Weg. Und genau diesem werde ich in den nächsten Tagen das Buch in die Hand drücken, weil ich weiß, dass es ihm gefallen, auch er seinen Spaß, seinen Kloß im Hals haben, und sich erinnern wird.

Es ist nie selbig, es ist immer ein kleines bisschen anders und dann eben doch nicht.


Eine weitere Rezension:

Vom Zauber, Glumm zu lektorieren


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Nachträgliche Gedanken

zu meiner ersten Etüde 2020

Zurzeit lese ich einen Doppelband von  Elena Ferrante „Meine geniale Freundin“ (Band 1), „Die Geschichte eines neuen Namens (Band 2)*. Der Ort der Geschichte ist Neapel der 1950/60er Jahre. In einem „Armenviertel“, heute würde wir wohl „Ghetto“ sagen, wachsen zwei Mädchen auf, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Sie werden Freundinnen und ergänzen sich auf wunderbare Weise. Und wovon träumen diese zwei Mädchen – vom reich werden. Ausbrechen zu können aus ihrem maroden Viertel voller Männergewalt, Männer gegen Männer, Männer gegen ihre Frauen und Kinder. Die Mädchen wachsen heran, ihre Wege gehen auseinander, kreuzen sich wieder. Ihr Miteinander folgt einer Dynamik von Anziehung und Abstoßung.

Noch bin ich am Anfang des zweiten Bandes. So viel sei noch erzählt: während die eine der zwei jungen Frauen noch immer aufs Gymnasium geht, heiratet die andere mit gerade mal sechzehn Jahren einen Geschäftsmann des Viertels. Jetzt ist sie reich, aber gleichzeitig stirbt sie, ihre Seele wird stumpf. Die Schülerin ist und bleibt ihre Freundin. Sie beginnt aber das Verhalten der Freundin zu hinterfragen und sinniert über den Preis einer reichen Heirat.

Wieso schreibe ich das alles? Meine erste Etüde in diesem Jahr führte zu einer Diskussion zwischen Gerda, anderen und mir. Gerda hat „meine“ tagträumende Frau abgelehnt, vor allen Dingen ihre Träume und schlug einen Bogen dazu, dass genau diese Art der Träume von ärmeren Menschen und/oder schlichteren Gemütern zu der problematischen Weltsituation geführt hat, in der wir heute leben.

Das kann ich so nicht stehen lassen. Nicht alle Menschen können alles, auch wenn dies gerne suggeriert wird. Ich glaube allerdings, dass Viele viel mehr können, dazu aber nicht ermutigt werden. Bildung und Erziehung können dazu führen, dass Menschen von kleinauf an sich selbst, ihr Können und Nichtkönnen erspüren, begreifen können. Hierdurch wächst Selbstvertrauen. Selbstbewusste Menschen werden nicht so schnell zu Opfern oder Spielbällen von Religionen und Politik und ihren Machenschaften.

Nun ist aber nicht allen Menschen Bildung vergönnt. So darf die eine der Freundinnen, obwohl hochbegabt und hoch intelligent, nicht weiter die Schule besuchen, sondern muss der Mutter im Haushalt helfen und dem Vater und ihrem Bruder in der Schusterwerkstatt. Sie lernt mit der Freundin heimlich weiter … nutzen tut ihr das alles nichts. Wie geschrieben, noch kenne ich den Fortgang der Geschichte nicht, ich hoffe sehr, dass sie zu ihrer alten Wehrhaftigkeit zurückfindet.

Um auf die Diskussion in meinem Kommentarstrang zurück zu kommen, frage ich euch wem es zu grollen gilt – einer Frau, die wir ja im Prinzip gar nicht kennen, nichts von ihrer Geschichte, ihrer Sozialisation wissen oder aber der Politik, den gesellschaftlichen Mechanismen, den Gaukelnbildern von Hollywood und dem alles beherrschenden Konsumterror? Ich grolle letzteren.

Arme Menschen träumen nun einmal davon auch etwas vom großen Kuchen abzubekommen, den die Reichen und Schönen aber nicht mit ihnen teilen wollen. Unterdrückte Frauen träumen von rettenden Prinzen usw.! Einige wenige schaffen es auszubrechen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Doch seien wir einmal ehrlich, das sind die Ausnahmen.

Ich schrieb an Gerda (leicht korrigiert): „Erst waren es die Reichen, die nur weißes Brot aßen, also wollten die Armen weißes Brot, sie bekamen es in Massen und leben nun ungesünder als je, während sich die Reichen das „gesunde Vollkornbrot“ reinschieben … Wir leben in einer Folge von Jahrhunderten, Gier treibt die Reichen, Neid die Armen, Hass viele dieser beiden Fraktionen. Medien kamen dazu, da denke ich besonders an zigtausende von Hollywoodproduktionen, die dieses Streben nach einer bequemen Welt mit viel Hightech und Hifi nach vorne getrieben haben, ebenso all das was wir Tourismus nennen. Und sind die Menschen nur einen Deut glücklicher geworden? Nein! Stehen wir nicht vor einer großen Schwelle, an der viele Menschen erkennen, dass es so nicht weitergehen kann, dass es ein Umdenken in vielen Bereichen des Lebens und Miteinanders geben MUSS, wenn es Ziel ist, dass dieser Planet auch noch in Jahrhunderten bewohnbar sein soll?! Bildung ist dabei schon seit Jahrzehnten eins meiner Zauberwörter, aber die wird nicht gegeben, wie sie gegeben werden könnte und warum, weil die Reichen und Mächtigen keinerlei Interesse an selbst denkenden und handelnden Menschen haben. Und ist das neu? In keinster Weise. Bleibt die alles bestimmende Frage: WIE KRIEGEN WIR DIE KUH VOM EIS?“

Nun könnte man argumentieren, dass Menschen in dieser Zeit und besonders in Deutschland jede Chance haben sich selbst zu verwirklichen. Ich sage nein, haben sie nicht und erinnere an die sogenannte neue Armut und unser marodes Bildungssystem, einmal ganz abgesehen von Lehrmethoden, die vollkommen überaltert sind, plus LehrerInnenmangel. Aus meiner Sicht gilt es genau hier anzusetzen und sich weiterhin dafür stark zu machen, dass gleiche Bildung für alle zu gelten hat, dass Rahmenbedingungen geschaffen werden müssen in denen Lehrerinnen und Lehrer angemessen entlohnt werden, Schulen renoviert werden und kleine Menschen sich selbst und ihr Können und Nichtkönnen behutsam begreifen können. Ich sage: weg mit Eliteschulen und mit Elitedenken sowieso!

Wir alle leben in gespaltenen Gesellschaften, aber aus meiner Sicht kommen wir nicht weiter, wenn wir diejenigen abwerten, verurteilen, schlecht machen, die Opfer der bestehenden Verhältnisse geworden sind. Bleiben wir wehrhaft und setzen wir uns, auch wenn es schwer erscheint, ungebrochen für eine menschenwürdige Welt ein, in der jedes Lebewesen seinen ihm anstehenden Raum innehaben darf.

Nun bin ich auf eure Meinung gespannt.



*ISBN: 978-3-518-42553-4 und 978-3-518-42574-9