Über die Stadt
Ich möchte euch wieder einmal zu einem Text von mir drüben bei der guten Frau Graugans einladen. Willkommen!
Über die Stadt
Ich möchte euch wieder einmal zu einem Text von mir drüben bei der guten Frau Graugans einladen. Willkommen!
In meinem Artikel „kurios“ vom 10.04. verlinkte ich einen Text von mir mit dem Titel: Erste Erinnerungen haben nackte Beine, vom 21.06.2012, das ist also schon etwas her. Damals war ich noch relativ „neu“ in Bloghausen, hatte nur sehr wenige LeserInnen, die mir folgten. Als ich jetzt diesen Text noch einmal las, kam ich zu dem Schluss, dass ich ihn hier noch einmal teilen möchte. Weil ich ihn mag und weil er etwas über mich erzählt. Heute werde ich ihn zusätzlich mit Bildern unterlegen und ihn noch ein ganz kleines bisschen überarbeiten.
Das Mädchen lebte ihre Welt. Tom Sawyer, der dicke Neger Jim, der Mississippi und die Raddampfer, die alte Tante Bessy und Huckleberry Finn waren ihr Land und ihr Volk. Das Land der kindlichen Träume, in dem alles geschah, wie es geschehen sollte.
Heute ist anders. Ist auch nicht mehr jung. Und doch … irgendwo lebt noch immer das Mädchen in mir, tanzen noch immer nackte Beine mit dem Wasser im Bach, einen Walzer im Bett.
Eine Wohnung unter dem Dach, eine schlaflose Nacht, ist eine andere Erinnerung. Die Hitze des Tages stand noch in den Räumen. Schweiß und Worte rannen aufs Papier. Nur am Tag fand sich Kühle am Badeteich. Vergangene Kindheitsträume lebten auf, planschender Weise. In der Nacht tanzten Schattenfüße über die Wände, schrieb sich das damalige Jetzt. Über Freund W. zum Beispiel, der von roten Kugeln träumte, wenn er in der Sonne schlief. Vom Sirren der Mücken in der Nacht, über Mottenflügel, die sich an Kerzen verbrannten. Gestriges webt sich ins Heute, manches bleibt, es verändert sich nicht.
Rekordhitzewochen … ein Damals. Man sprach noch nicht von historischen Begebenheiten, nicht vom Klimawandel, von Rekorden schon. Sechs, sieben Wochen lang kein Regen, nur Hitze, auch kein Gewitter. Sechs, sieben Wochen Badeteich am Tag, Gedankenfluss und Wortschöpfungen am Abend. Das Wort „Mondfalterbach“ zum Beispiel. Daneben pflügten Raddampfer durch Flusswasser, weiße Sandbänke gesellten sich hinzu, Ozeane und farbige Fischer, Steppen, Wüsten, Eisbären und Pinguine, Bazare im Orient, Wasserfälle und Rentiere, Iglus, Jurten, Tipis standen neben Wolkenkratzern.
Highways zogen von hier nach dort. Rote Beeren löschten Durst. Wind kühlte heiße Stirn. Erste Weitsicht grub sich durch schlaflose Hitzenächte ins junge Sein. Jahre kamen und gingen. In der Erinnerung spielt Kindheit mit nackten Beinen an Bach und Badesee.
Nackte Beine hüpfen in Hinkekästchen, schießen Bälle ins Tor, drehen Pirouetten auf Rollschuhen, tanzen Gummitwist. Nackte Arme lassen rote Bälle fliegen, hin und her, einen fing das Meer. Hätte es nicht auch die roten St.-Martins-Äpfelchen gegeben, den vollen Schuh am Nikolausmorgen und die Kerzen am Weihnachtsabend, wären die Beine wohl immer nackt in der Erinnerung geblieben, schmelzende Eiskugeln würden stetig auf Sonntagskleider tropfen und Deckenhöhlen auf Baumschatten stehen. Immer würde die Amsel singen, die Spatzen tschülpen, die Knie zerschunden sein. Eine glückliche Kindheit. Vielleicht.
Kindheit ist unverdorbenes und unschuldiges Sein. Kindheit erkundet fremdes Land, Ferienland zum Beispiel. Nackte Füße tanzten in Bergbächen, Kieselsteine ertastend. Im Ferienlagertheater spielte das Mädchen Tom Sawyer, die Freundin den Huckleberry Finn.
Kindheit ist Vanillepudding mit Johannisbeeren auf seinem Grund, wehende Haare und Röcke im Sommerwind, ein rotes Fahrrad saust durch goldgelbe Getreidefelder zur Badeanstalt. Unbeschwert, unverdorben, unschuldig, viele Albernheiten, viel Lachen, Tränen auch. Eben, nicht immer war Sonnenschein, nicht immer Ferienzeit, anderes schob sich darunter.
Erinnerungen liegen nicht chronologisch in den Fächern. Am Anfang jedoch ziehen immer weiße Wolken über Azurblau, Schwalben im Geleit.
Am Anfang brennen Lagerfeuer am Abend, lauter Gesang, leises Gebet. Schwimmen im Fluss, im See, durch den Teich, das Becken, den Kanal. Zuerst ist immer Freundschaft, die gemeinsamen Abenteuer, Streiche und Spiele.
Das Andere legte sich darunter. Leicht, leichter am leichtesten bilden die Spitze, schwer, schwerer, am schwersten den Grund.
Heute, an einem der wechselhaften Apriltage des Jetzt, nimmt die Frau ihr Mädchen an die Hand. Gemeinsam wandern sie durch die Sonnenscheintage ihres Seins. Wieder sammeln sie weiße Kieselsteinchen. Mohnblüten, Kornblumen und Kamille tüpfeln ihr Rot, Blau, Gelb-Weiß an den grüngelben Rand. Ausflugsdampfer tuten und hinterlassen Wellen für die Wassertänzerin. Menschen winken und lachen. Blaue Libellen schweben über Mondfalterbach. Kirschen prall und süß, bunte Blumenwiesen zu Kränzen geflochten. Schmetterlingsleichte Gedanken lassen sich nicht fangen.
Gerüche von damals wehen herein. Zwei Eisdielen, zwei Düfte. Die kleine, mit der uraltfaltigen Frau, roch nach kühler Milch. Die großdunkelschummerige nach Wärme und Vanille. Eine dritte, die kam, als die Uraltfaltenfrau gegangen war, roch nach modernen Plastikstühlen. Dort ging das Mädchen nicht oft hinein.
Eine Kugel Eis ein Groschen, eine Straßenbahnfahrt fünf Pfennig, eine Karusselfahrt zwanzig oder fünfzig. Manches erinnert sich schlechter als anderes. Weil das Mädchen nie an Geld riechen mochte? Vielleicht.
In den Gärten des Mädchens standen keine Sonnenschirme oder Hollywoodschaukeln, die waren den Reichen vorbehalten, wie die dicken Teppiche und Kricketrasen auch. Hier wurden andere Spiele gespielt, leisere, gezähmtere, nicht wirklich lustigere. Das war nicht ihre Welt. Nur manchmal wurde sie hineingeladen, von Unwohlsein begleitet.
Die Erinnerung beginnt mit dem Duft von Vanille und gekühlter Milch, wandert weiter zu den Deckenburgen, zu eisgekühlten Hagebuttentees, hin zum Klingeln des Eismanns an einem anderen Ort. Eis und Wasser, Butterbrote mit gesalzenen Gurkenscheiben, kaum Berge, viel Wiese, kaum Mutter, viel Freundin und Freund, viel Tante, Cousins und Cousinen, viel Lachen und immer Schmerz, wenn es Nachhause ging.
Das selbe Stampfen der Dampflokomotive begleitete abwechselnd das Leichteste und Schwerste. Hinein in die Ferienzeit, hinaus. Hinein. Hinaus. Hinein. Hinaus.
Im Hinaus wohnten andere Freundinnen, andere Freunde. Im Hinein verschwanden Tom und Huck wieder hinter den Buchdeckeln, gesellten sich zu Jim Knopf und Lukas dem Lokomotivführer, zu Inga, Lisa, Britta, Kerstin, Lasse, Bosse und Ole, zu den fünf Freunden und den sieben Fragezeichen, zu Hanni und Nanni ins Internat, zu Trotzkopf und vielen anderen mehr. Die Tage wurden wieder kürzer, an den Beinen kräuselten sich wieder Kniestrümpfe, später im Jahr waren es die verhassten Wollkratzstrumpfhosen.
Die Sehnsucht heißt nackte Beine im Wind und nackte Füße im Bach, damals wie heute. Die Sehnsucht liegt in grünbunten Blumenwiesen, betrachtet federleichte Schmetterlingsflüge, am Abend sitzt sie am Mondfalterbach und zündet das Feuer an. Im Sommer tanzen ein Mädchen und eine Frau gemeinsam durch kühle Sommerbäche, nicht nur Erinnerungen haben nackte Beine.
Die kleine blaue Frau, die Zeit, die Anderen und Spuren
Erinnerungen mal zwei
Die Einer sind die Mehler*. Die zählen sich gen Null. Nur am Abend glitzern sie so herrlich auf den Bettdecken der Cousinen, grün und blau und gold. Klicker heißen bei uns Dötze. Ihr sagt Murmeln, wir verstehen uns. Absätze bohren Löcher in die Erde. Weiter hinten wird ein Strich gezogen.
„Geh spielen! Geh …“
Die Einer sind die Mehler. Am grellen Tag sind sie die Null. Da weiß man doch sofort in welchen Stuben die Armut hockt und man am Abend trotzdem lacht. Zehn für eine Gläserne, eine kleine, versteht sich. Das ist die Regel.
Es klickt und klickert, es wird weggedözt und ins Loch gerollt. Verloren ist verloren, wird gemurmelt. Manche lernen nie auf den Fingern zu pfeifen und schneller als der Wind die Kurve zu kriegen. Als würden unsichtbare Stempel auf neugeborene Stirnen gedrückt: gewinnen – verlieren – ausscheiden. Küssen und herzen ist nur was für Affenmütter.
„Ulriii-ke, komm jetzt rein!“
„Aber die …“
„Du kommst jetzt rein, aber dalli!“
Die Einer sind die Mehler, die zählen eigentlich nix. Zehn für eine Gläserne, eine kleine, versteht sich. Grün und blau und gold glitzern sie am Abend auf der Bettdecke der Cousinen. Was haben wir gelacht!
*Wer weiß, was Mehler sind?
Text © Ulli Gau 03 2015 (aus dem Gedankenauffangbuch)
Andere Erinnerungen
Im März war ich in Berlin, Susanne Haun hatte mich zu ihrem Kunstsalon eingeladen. Unser gemeinsames Thema waren Blumen. Berlin im März war nasskalt und grau, nur in kurzen Momenten wurde manch Pfütze blau. Aber die Blumen blühten im Salon.
Später beschäftigte mich eine lange Zeit die Frage: in welcher Liga spiele ich eigentlich? Vor kurzem schrieb ich an Samtmut meine Antwort: ich bin eine vom kleinen Volk.
In Berlin traf ich mich auch mit Elvira (immer diese Engel, bitte klicken) Elvira und ich waren und sind uns einig: dieses Gespräch hätte noch Stunden weitergehen können und irgendwie tut es das auch …
Im März war es auch, als eine Serie von KrankSein ausbrach. Aber das ist jetzt hoffentlich vorbei!
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