
Es dauert nur wenige Minuten, dann setze ich mich aufrecht hin- dies ist kein Film bei dem ich mich gemütlich in die Polster kuscheln könnte. Die erste Empörung macht sich Luft. Die ersten Tränen rollen bald.
Wie kann es sein, dass der Mann, Umays Mann, Cems Vater, erst den Jungen in ein Loch sperrt und dann seine Frau besteigt?
Mit welchem Recht?
Mit keinem.
Wo ist Liebe?
Hier nicht. Eine Demonstration der männlichen Macht.
„Und ihr seid still!“
Aber Umay ist nicht still.
Sie packt in der Nacht ein paar Sachen, nimmt Cem auf den Arm und verlässt Istanbul, ihren Mann, seine Familie und fährt zurück nach Berlin, wo ihre Familie lebt und sie einst auch.
Lange währt die Wiedersehensfreude nicht. Nur solange, bis die Familie versteht, dass Umay ihren Mann verlassen hat. Dass sie in Berlin arbeiten, einen Hochschulabschluss machen und später studieren will.
„Du beschmutzt die Ehre unserer Familie.“
„Vater … er schlägt mich … Cem auch.“
„Umay … es ist dein Mann.“
Meine Wut wächst, irgendwo lauert auch die Ohnmacht, mir ist unwohl, ich trinke heißes Wasser … bin ganz nah bei Umay, die sich wehrt, die beginnt ihren Weg zu gehen, die eine Zuflucht findet, ihre alte Freundin, eine Arbeit, einen Schulplatz und einen Mann. Einen Mann, den sie beginnt zu lieben und er, sie.
Umay findet und dann verliert sie, ihren Vater, ihren älteren Bruder, später auch den jüngeren, ihre Mutter, ihre Schwester:
„Ich bin nicht wie du … “
Blut ist plötzlich nicht mehr dicker, als Wasser.
Einmal Hure, immer Hure.
Ich weine mit Umay. Ich wüte mit ihr. Ich spüre jede Ohrfeige, jeden Stoß. Umay ist stark. Sie behält den Kopf oben. Sie ist klug. Sie ist schön.
„Wäre sie doch als Junge geboren …“
Manchmal möchte ich schreien, etwas an die Wand werfen, ich sehe rot …
ich sehe Umay in ihrem rotem Kleid, dem geraden Rücken, ihren aufrechten Gang, Cem auf dem Arm …
Ich denke an „Das weiße Band“ von Michael Haneke, ich denke an meine Kindheit, an meine Jugend, meinen Kampf als Frau und Mutter, denke an meinen Rücken, spüre ihn, spüre, wie oft er sich aufgerichtet hat und doch sind es peanuts … und doch ist es nicht nur ein türkisches, ein arabisches, ein afrikanisches Problem … es ist direkt hier … hier, in meinen Zellen, in meinem Erbgut, in der Übertragung von Generationen:
das Frauenbild

Es ist direkt hier …
Gestern, am Sonntagmorgen, als ich das Frühstücksgeschirr im Seminarhaus verräumte, erzählte eine Frau der anderen … ich sah ihre Gesichter, ich hörte ihre Worte, hörte:
goldener Käfig,
Übergriffigkeiten
Ohnmacht,
Angst,
den Schein aufrecht erhalten
der erste Tumor wuchs …
Gewalt ist in viele Gesichter geschrieben.
Gewalt kennt viele Gesichter.
Angst ist in die Augen geschrieben,
in Kinderaugen, Frauenaugen und in manche Männeraugen auch.
Ich denke an Umay … in ihrem rotem Kleid, dem geraden Rücken, ihren aufrechten Gang, Cem auf dem Arm …
Heute ist, wie jeden Tag, ein internationaler Tag, einer, der an die Gewalt gegen Frauen erinnern soll.
In Afghanistan gibt es Mädchen, die mit 12 Jahren verheiratet werden. Sie dürfen niemals ihr Haus verlassen. Nie.
Mädchen gebären Mädchen und Buben.
Mädchen werden beschnitten.
Mädchen werden missbraucht, misshandelt, benutzt …
Mein Herz klopft. Ich schreie nicht. Ich schreibe …
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