
Ein Bild, das nach dem Lesen des Krimis von Linus Reichlin: „die Sehnsucht der Atome“ entstand. Der Kommissar, Hannes Jensen, interessiert sich für Physik, besonders die Quantenphysik. Sein Weg führt ihn nach Mexiko in ein abgelegenes Bergdorf, wo er auf Esperanza Toscano Aguilar trifft, eine Heilerin. Ihr Medium ist ein Engel, mit ihm verbindet sie sich und betet für die Kranken, die sie meist erfolgreich heilt. Für den naturwissenschaftlich orientierten Kommissar ist das alles Humbug, weder glaubt er an Engel, noch an Heilung durch Gebete … Das folgende Gespräch hat mich zu diesem Bild inspiriert … hört selbst was Esperanza Toscano Aguilar und Jensen zu erzählen haben:
„Als ich sechs Jahre alt war, erfasste mich ein Windstoß. Für eine kurze Zeit sah ich mich selbst von außen. Und als es vorbei war, wusste ich alles. Ich wusste weshalb es Menschen gibt, Pflanzen, Tiere, alles. Es kommt alles von zwei Engeln. Sie sind die zwei Kräfte im Universum.
Der eine Engel besteht aus Wasser und der andere aus Eisen. Sie ringen miteinander, aber es ist kein Kampf. Sie ringen miteinander, weil sie lebende Dinge hervorbringen wollen. Aber das geht nur, wenn beide Engel gleich stark sind. Der Engel aus Wasser will Unordnung, immer mehr Unordnung. Der Engel aus Eisen will Ordnung, er will, dass sich nichts mehr bewegt. Keiner der beiden darf stärker sein als der andere, denn alle lebenden Dinge entspringen der Mitte. Sie können weder in der Ordnung noch in der Unordnung leben, sondern nur in der Mitte von beiden. Das ist alles, was ich weiß.“
Jensen verstand nicht, weshalb sie ihm das erzählte, aber das spielte keine Rolle. Sie hatte soeben eine der fundamentalsten Erkenntnisse der Physik formuliert. Aus ihrem Mund klang es zwar wie ein Märchen, aber das änderte nichts daran, dass sie grundsätzlich vollkommen richtig das Gleichgewicht zwischen der starken Kernkraft und der Entropie beschrieben hatte.
„Sie wissen viel“, sagte er. „Und Sie haben vollkommen recht. Der Engel aus Wasser, wie Sie es genannt haben, wird in der Physik als Entropie bezeichnet. Wie Sie sehr richtig sagen, strebt die Entropie größtmögliche Unordnung an. Sie möchte, dass sich alle Atome des Weltraums gleichmäßig im ganzen Universum verteilen. Aber dann könnten sich keine Strukturen bilden, keine Sonnen, keine Planeten, keine Menschen. Wenn die Entropie gewinnen würde, wäre das Universum voll mit Wasserstoffatomen … Die andere Kraft, die der Entropie, die dem Engel des Wassers entgegenwirkt, nennt man starke Kernkraft. Sie haben diese Kraft Engel aus Eisen genannt, und das ist vollkommen exakt. Die starke Kernkraft will genau das Gegenteil der Entropie: Sie will, dass aus dem einfachsten Atom, dem Wasserstoff, schwerere und komplexere Atome entstehen, und sie will, dass die Atome sich nicht im Universum verteilen, sondern an einem bestimmten Ort versammeln. Sie strebt die größtmögliche Ordnung an. Sie möchte alles in Eisen verwandeln, denn Eisen ist das stabilste und folglich geordnetste aller Atome. Wenn die starke Kernkraft gewinnen würde, wäre also dieses Haus aus Eisen, die Fensterscheiben, die Türen, Tische, Stühle, alles wäre ein einziger Eisenblock, starr und unzugänglich.“ …
… „Und nun ist es tatsächlich so, dass die Elemente, aus denen sich alle organischen, lebendigen Dinge zusammensetzen, nämlich Kohlenstoff, Sauerstoff, Schwefel und Phosphor, genau aus der Mitte entspringen, wie Sie sehr richtig sagen. Die starke Kernkraft will alles in Eisen, starre Ordnung verwandeln, die Entropie möchte strukturlose Unordnung, das Chaos. Sie und ich, wir bestehen zur Hauptsache aus Kohlenstoffverbindungen. Und Kohlenstoff ist genau das, was entsteht, wenn die Entropie und die starke Kernkraft sich im Gleichgewicht befinden und keine der beiden Kräfte die Oberhand gewinnt. Das Leben ist also ein Kompromiss zwischen chaotischer Unordnung und erstickender Ordnung.“
Vielleicht ist dies ja mit ein Grund für das Gefühl der Menschen, dass zwei Seelen in ihrer Brust leben, dass wir zwischen Ordnung und Chaos hin- und herpendeln, dass super ordentlichen Menschen eine gewisse Starre anhaftet und Menschen, die eher chaotisch veranlagt sind eine Aura des Nichtfassbaren um sich herum haben … (und nun soll mal noch jemand sagen, dass Krimi lesen nicht bildet 😉 )
Ich dachte beim lesen dieser Passage aber auch an das double-bind-Projekt von Susanne Haun und Jürgen Küster, in dem es u.a. auch um Engel geht, dachte an die Abwehr von Jürgen (und mir), was Engel betrifft … Meine Abwehr hat mit den pausbäckigen Putten zu tun. Sie hat sich aber, seitdem ich Engel als Symbole für gewisse Kräfte begreife, gewandelt. Und ja, ich habe sogar einen persönlichen Engel, aber der hat keine Flügel … und ich habe einen Punkerengel im Auto hängen, den mir vor ein paar Jahren eine Freundin aus Hamburg schenkte.
