Erinnerungsschaukel 003

G E S T E R N  U N D  H E U T E, D A S  J E T Z T  A U C H  S C H O N  W I E D E R  G E S T E R N  I S T

Als ob es so muss, dass plötzlich nur noch Erinnerungen zählen, in der sie Gesicht und Worte einfordern und dabei jedes Jetzt überlagern, mich nicht wissen lassen, was ich gestern tat, dafür umso besser, was vor dreißig Jahren. Dass Erinnerungen ihre Türen und Fenster öffnen und Damalswinde Jetzträume durchwehen, mit Gerüchen, die alt erscheinen und gleichzeitig wohlbekannt. Nicht immer wohlig, nicht immer benannt in ihrem Duft, weil ein Erinnerungsduft sich zusammensetzt aus Kohlen im Keller, Kartoffeln, Feuersalamandern und meiner Angst.

Die Angst, die ich versuchte weg zu pfeifen. Ein schiefes Lied gegen das laute Pochen in meiner Brust. Dort, allein im Keller mit seinen vielen Winkeln und Verschlägen, seinen Kohlen, Kartoffeln und Feuersalamandern, um etwas zu holen, das Mutter brauchte.

Die Gläser mit Eingemachten zählen nicht, geruchlos standen sie in Reih und Glied auf den Bretterregalen, die sich gefährlich bogen. Vielleicht roch noch das rote Gummi, das alles verschloss. Aber so wirklich interessierten sie nicht. Auch nicht heute, nicht in diesem Keller. Später, in einem anderen Keller ohne Winkel und Verschläge, ohne Kartoffeln, Kohlen und Salamandern lockten die Birnen. Da war ich nächtliche Mundräuberin, riss an den Gummis, aß ganze Gläser leer. Ich rieche sie noch.

Aber jetzt will ich keine alten Orte aufsuchen, will nicht auf meinen Spuren wandern, will neue in den Sand vor mir setzen. Ich weiß vom Wind, der sie zerweht, ob früher oder später. Viele hat er schon mitgenommen. Meine Füße hinterlassen keine Abdrücke in Stein und das, was damals war, ist in mir. Die Häuser, ob sie noch stehen oder nicht, ob sie neue Farben bekamen oder nicht, bedeuten mir nichts. Sie stehen dort vierstöckig mit grauer Fassade, ich werfe rote Bälle an ihre Wände und will nicht mehr dorthin zurück. Keinen Weg von damals will ich noch einmal gehen.

Ich rieche an Maiglöckchen und habe wieder Geburtstag in Tantes Garten. Gärten und Häuser, die verschwanden, aber nicht in mir. Sie alle hatten einen Keller und alle ihre Wände erkannten mich an meinem Pfeifen. Kartoffeln und Kohlen überall. Feuersalamander nicht. Eingemachtes schon. Ich erkenne sie an ihrem Geruch. Er wohnt noch in den Ganglien.

Wir lernten die Not aus den erzählten Geschichten, weit weg von uns und den immer voller werdenden Geschäften. Seelennot, die lernten wir auch, aber Hunger gab es nicht, wenn uns auch nicht alles schmeckte und das Brot, vor der Brust geschnitten, mit einem Segenskreuz verziert, täglich und selbstverständlich auf dem Esstisch lag. Unser Hunger hieß nicht Brot. Er hieß Leben, Liebe, Lust, Leidenschaft und Wahrheit. Abenteuer winkten überall, nur nicht in den Wohnzimmern voller Gummibäumen und anderem Gewächs. Kittelschürze war nicht unser Kleid, nackte Füße steckten in Sandalen, ob es sich geziemte oder nicht. Röcke verloren ihre langen Säume, Wind fuhr durch offen getragene Haare, Bärte wuchsen, Kreuze brannten.

Daher kommen wir. Zeiten, die jetzt von dem einen und der anderen aufs Papier gebannt werden, die ich lese, die meine Erinnerungsräume öffnen, die Spiegel der Zeit sind und vielleicht die eine und andere Spur zu sich selbst, warum man wurde, was man ist und vielleicht noch werden kann.

Ich verschließe Türen und Fenster, fege Spinnweben von altersschwachen Erinnerungswänden, streiche weiße Farbe über alte Bilder, die am Ende nichts verbirgt.

Als ob es müsste, weil man es so sagt, als hätte Alter kein Jetzt und als bliebe kein anderer Weg. Als müsste ich schon satt sein und mich nur noch an den alten Wegen laben, ihren Brotkrumen darauf. Ein Krückstock sagt noch nichts über die Augen! Das Neu hat immer auch das Alte im Gepäck.

Juli 2015


Nur noch einmal zur Erinnerung (huch schon wieder eine), alle diese Texte, die ich hier einstelle, schrieb ich vor einigen Jahren und stellte diese hier auch schon ein, so kann es sein, dass ältere Leser*innen diese schon kennen. Ich mache dies für mich und die neuen Leser*innen, vielleicht wird ja doch noch einmal ein Buch daraus. Diese Idee wabert auf alle Fälle im Hintergrund dabei herum.


To my English speaking readers: From now on you can read every article of me in English, too, if you’ll go to the end of my blog page, you’ll find the button „Google Translater“. Enjoy!

Erinnerungsschaukel 002

E R S T E  E R I N N E R U N G E N  H A B E N  N A C K T E  B E I N E

Das Mädchen lebte ihre Welt. Tom Sawyer, der dicke Neger Jim, der Mississippi und die Raddampfer, die alte Tante Bessy und Huckleberry Finn waren ihr Land und ihr Volk. Das Land der jungen Träume, wo alles geschah, wie es geschehen sollte. Damals.
Heute ist anders. Ist auch nicht mehr jung. Und doch – irgendwo lebt noch immer das Mädchen. Tanzen nackte Beine mit dem Wasser im Bach, einen Walzer im Bett.

Eine Wohnung unter dem Dach. Eine schlaflose Nacht. Die Hitze des Tages stand noch in den Räumen. Schweiß und Worte rannen aufs Papier. Nur am Tag fand sich Kühle am Teich. Vergangene Kindheitsträume lebten auf. Planschender Weise.
In der Nacht tanzten Schattenfüße über die Wände. Schrieb sich das damalige Jetzt. Über Freund W. zum Beispiel, der von roten Kugeln träumte, wenn er in der Sonne schlief. Vom Sirren der Mücken auch. Über Mottenflügel, die sich an Kerzen verbrannten. Das gestrige Jetzt ins Heute gewebt. Manches bleibt, verändert sich nicht.

Rekordhitzewochen – ein Damals. Man sprach noch nicht von historischen Begebenheiten. Nicht vom Klimawandel. Damals … noch nicht. Von Rekorden schon. Sechs, sieben Wochen lang kein Regen. Nur Hitze. Auch kein Gewitter. Sechs, sieben Wochen Badeteich am Tag, Gedankenfluss und Wortschöpfungen am Abend. Mondfalterbach zum Beispiel. Raddampfer pflügten durch Flusswasser, weiße Sandbänke gesellten sich hinzu, Ozeane und farbige Fischer. Steppen, Wüsten, Eisbären und Pinguine, Bazare im Orient, Wasserfälle und Rentiere, Iglus, Jurten, Tipis standen neben Wolkenkratzern. Highways zogen von hier nach dort. Rote Beeren löschten Durst. Wind kühlte heiße Stirn. Erste Weitsicht grub sich durch schlaflose Hitzenächte ins junge Sein.

Jahre kamen und gingen. Mal mehr, mal weniger Sonnenschein und Badeseen.

In der Erinnerung spielt Kindheit mit nackten Beinen am Badestrand. Nackte Beine hüpfen in Hinkekästchen, schießen Bälle ins Tor, drehen Pirouetten auf Rollschuhen, tanzen Gummitwist. Nackte Arme lassen rote Bälle fliegen. Hin und her. Einen fing das Meer.
Hätte es nicht auch die roten St.-Martins-Äpfelchen gegeben, den vollen Schuh am Nikolausmorgen und die Kerzen am Weihnachtsabend, wären die Beine wohl immer nackt geblieben. Schmelzende Eiskugeln würden stetig auf Sonntagskleider tropfen und Deckenhöhlen auf Baumschatten stehen. Immer würde die Amsel singen, die Spatzen tschülpen, die Knie zerschunden sein. Eine glückliche Kindheit. Vielleicht.
Unbeschwert, unverdorben, unschuldig – das auf jeden Fall. Kindheit erkundete fremdes Land. Ferienzeit. Nackte Füße im Bergbach, Kieselsteine ertastend. Das Mädchen war Tom Sawyer, die Freundin Huckleberry Finn, im Ferienlagertheater.

Vanillepudding mit Johannisbeeren auf seinem Grund. Haare und Röcke wehen im kühlenden Wind auf rotem Fahrrad. Goldgelbe Getreidefelder stehen am Rand.
Unbeschwert. Unverdorben. Unschuldig. Viele Albernheiten. Viel Lachen. Tränen auch. Eben. Nicht immer war Sonnenschein. Nicht immer Ferienzeit. Anderes schob sich darunter.

Erinnerungen liegen nicht chronologisch in den Fächern. Am Anfang jedoch, ziehen immer weiße Wolken über Azur, Schwalben im Geleit. Lagerfeuer am Abend. Lauter Gesang, leises Gebet. Schwimmen im Fluss, im See, durch den Teich, das Becken, den Kanal. Zuerst ist immer Freundschaft, die gemeinsamen Abenteuer, Streiche und Spiele.

Das Andere legte sich darunter. Leicht, leichter am leichtesten bilden die Spitze, schwer, schwerer, am schwersten den Grund.

Heute, an einem der wechselhaften Apriltage des Jetzt, nimmt die Frau ihr Mädchen an die Hand. Gemeinsam wandern sie durch die Sonnenscheintage ihres Seins. Wieder sammeln sie weiße Kieselsteinchen. Mohnblüten, Kornblumen und Kamille tüpfeln ihr Rot, Blau, Gelb und Weiß an den grüngelben Rand. Ausflugsdampfer tuten. Hinterlassen Wellen für die Wassertänzerinnen. Menschen winken und lachen. Blaue Libellen schweben über Mondfalterbach. Schmetterlingsleichte Gedanken lassen sich nicht fangen. Kirschen prall und süß, bunte Blumenwiesen zu Kränzen geflochten.

Gerüche von damals wehen herein. Zwei Eisdielen, zwei Düfte. Die kleine, mit der uraltfaltigen Frau roch nach kühler Milch. Die großdunkelschummerige nach Wärme, Vanille und Zitrone. Eine dritte, die kam, als die Uraltfaltenmilchfrau gegangen war, roch modern – nach Plastikstühlen. Dort ging das Mädchen nicht hinein.
Eine Kugel Eis ein Groschen. Eine Straßenbahnfahrt fünf Pfennig. Eine Karusselfahrt zwanzig oder fünfzig. Manches erinnert sich schlechter als anderes. Weil das Mädchen nie an Geld riechen mochte? Vielleicht.
In den Gärten des Mädchens standen keine Sonnenschirme und Hollywoodschaukeln. Die waren den Reichen vorbehalten. Wie die dicken Teppiche und Kricketrasen auch. Hier wurden andere Spiele gespielt. Leisere. Gezähmtere. Nicht wirklich lustigere. Nicht ihre Welt. Nur manchmal hinein geladen, von Unwohlsein begleitet.

Die Erinnerung beginnt mit dem Duft von warmer Vanille über kühler Milch. Wandert weiter zu den Deckenburgen, zu eisgekühlten Hagebuttentees mit Zitrone und Zucker, hin zum Klingeln des Eismanns an einem anderen Ort. Eis und Wasser. Butterbrote mit gesalzenen Gurkenscheiben. Kaum Berge. Viel Wiese. Kaum Mutter. Viel Freundin und Freund. Viel Tante, Cousinen und Cousins. Viel Lachen. Und immer Schmerz, wenn es Nachhause ging.
Dasselbe Stampfen der Dampflokomotive begleitete abwechselnd das Leichteste und Schwerste. Hinein in die Ferienzeit, hinaus. Hinein. Hinaus. Hinein. Hinaus.
Im Hinaus wohnten andere Freundinnen, andere Freunde. Im Hinein verschwanden Tom und Huck wieder hinter den Buchdeckeln, gesellten sich zu Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer. Zu Inga, Lisa, Britta, Kerstin, Lasse, Bosse und Ole, zu den fünf Freunden und den sieben Fragezeichen. Zu Hanni und Nanni ins Internat.
Kürzer werdende Tage. Die Mädchenbeine sind nun wieder von Kniestrümpfen umhüllt, später von verhassten Wollkratzstrumpfhosen.
Die Sehnsucht heißt nackte Beine im Wind. Damals wie heute. Nackte Füße im Bach. Träge in Grünwiesen liegen, blaue Libellenflüge betrachten, abends am Mondfalterbach das Feuer anzünden.
Das Mädchen hat sich vom Gestern ins Heute hinüber gerettet. Wohlbehütet von der Frau. Tropfende Eisschmelze auf Baumwollblusen, nackte Füße in eiskalten Bächen, nackte Beine vom Wind umspielt.

In den ersten Erinnerungen tanzen nackte Füße und Beine im Bach, ziehen weiße Wolken über Azur, Schwalben im Geleit.

21.06.2012