
Ob ich sie oder ihn, Mauer oder wahlweise Abgrund, geflissentlich übersehen habe, sprich ob sie, oder wahlweise er, immer schon anwesend, nur getarnt und somit unsichtbar war, die Frage stellt sich, auch wenn sie müßig ist. Weil sie j e t z t da ist, er auch, Mauer und Abgrund.
Die eine zu hoch, um herüber zu kommen, der andere zu tief, seine Kanten zu weit auseinander, als dass ich einen Sprung wagen könnte. Bleibt ein Entlangwandern. Die Lücke oder ein Ende von Mauer und Abgrund sind wahrscheinlich. Was allerdings nichts über ihre Entstehung sagt, nur etwas von einer Möglichkeit der Überwindung.
Gegenseitige Bedingtheit und ich mittendrin. Ich kann umkehren oder der Lücke, dem Ende entgegenwandern. Wenn ich mich umkehre, von außen nach innen, wo ist dann die Mauer, der Abgrund?
Ein stiller, tiefer See in dem sich das Mond- und Sternenlicht spiegelt- ein bellender Fuchs in der Ferne, ein Bussard im Wäldchen, ein Uhu am Straßenrand. Auf dem Grund des Brunnens treffe ich immer nur mich, Licht und Neumonddunkel, Vollmond und die Sonne, um zwölf Uhr mittags das Ave-Maria-Geläut. Jeden Mittag Ave Maria, wer weiß das schon?
Das Elfuhrgeläut galt früher den Bauersfrauen. Es mahnte sie in die Küche zu gehen, ein Mahl zu bereiten, das Pferd vor den Wagen zu spannen, die heißen Töpfe sicher darauf zu verstauen und mit Hü und Ho zu den Leuten aufs Feld zu fahren. Wie Willkommen sie war!
Vielleicht … gerade jetzt, an einem anderen Ende der Welt, zieht ein Pferd, ein Muli oder Esel einen Wagen mit heißen Töpfen auf ein Feld. Mit Hü und mit Ho.
Den Blick abwenden oder umkehren, es braucht Mut dazubleiben. Es braucht Mut den Moment der Vergeblichkeit zu erkennen. Manches ist keine Flucht, es ist eine Notwendigkeit.
Von hier geht die Traurigkeit ein Stück mit auf dem Weg. Traurigkeit will keinen Trost, sie will traurig sein.
Diesen Text schrieb ich vor ein paar Tagen, ja, aus Gründen. Heute fand ich in dem Literaturmagazin „poet“ nr. 19 folgendes Gedicht:
Jan Wagner
im brunnen
sechs, sieben meter freier fall
und ich war weiter weg
als je zuvor, ein kosmonaut
in seiner kapsel aus feldstein,
betrachtete aus der ferne
das kostbare, runde blau.
ich war das kind
im brunnen, nur die moose
kletterten am geflochtenen
strick ihrer selbst nach oben,
efeu stieg über efeuschultern
ins freie, entkam.
ab und zu der weiße blitz
eines vogels, ab und zu
der weiße vogel blitz. ich aß,
was langsamer war. der mond,
der sich über die öffnung schob,
ein forscherauge überm mikroskop.
gerade, als ich die wörter assel und stein
als assel und stein zu begreifen lernte,
drang lärm herab, ein hasten, schreie,
und vor mir begann ein seil.
ich kehrte zurück ins läuten der glocken,
zurück zu brotgeruch und busfahrplänen,
den schatten unter bäumen,
gesprächen übers wetter, kehrte
zurück zu taufen und tragödien,
den schlagzeilen, von denen
ich eine war.
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