Ein Blog lesen wie ein Buch, sagt die Freundin in ihrer Sprechpost an mich. Ja.
Nicht jedes Ich bin ich, nicht Nairobi und nicht die kleine blaue Frau, noch nicht einmal ein Ich bin ich. Einmal abgesehen von der Frage was und wer dieses Ich denn sei. Als wäre es eine feststehende Größe, unabänderlich, in Stein gemeißelt mit ehernen Wurzeln.
Facettenreich, bunt schillernd, schwarz, weiß und grau und alles dazwischen. Vom Kindlichen zum Alten, ein Wandern und Wandeln. Transformationen, vielleicht mit einem Kern, der war, ist und sein wird. Ein Kern, um den alle Verwandlungen kreiseln, wie die Fragen, die zu weiteren Fragen führen und jede Antwort doch nur vorübergehend ist.
Und dann wiederum bin ich es, deren Finger auf den Tasten klappern, die den Stift, den Pinsel über Leinwand und Papier führt, die Punkte, Linien, Worte aufsteigen lässt oder pflückt, je nachdem; die verknüpft, wiederkäut, mehr oder weniger genüsslich, die sät und düngt. Nur … mit welchem Gesicht?
So trage ich die Sprechpost, die auch eine Hörpost ist, mit mir durch die Wiesen und am Fluss entlang. Mein Weg kreuzt sich mit den Wanderhühnern, die mir noch jedes Mal ein Lächeln entlockt haben. Hallo Bertas! Ja, alle Hühner heißen Berta, so wie alle Kühe Lisa heißen. Frag nicht.
Nur zwei Tage vergingen zwischen eisig und frühlingshaft, zwischen glitzerndem Eis und gelben Blüten.
Das Hochwasser hat seine Spuren hinterlassen, wie der Winter selbst. In den umgefallenen und entasteten Bäumen am Ufer hängen zigfarbene Plastikteile. Schulklassen werden sie entfernen, wie jedes Jahr oder ich.
Meine russische Wildseele weint. Sie weint um die gezähmte Natur, die verunreinigte Natur.
Am Morgen lachte die russische Seele mit der Neunundsiebzigjährigen. Die – alleine lebend – auf Schlittschuhen eine halbe Stunde über den tiefgefrorenen Baikalsee zum nächst gelegenen Dorf gleitet, um einzukaufen. Die in ihrem Häuschen auf dem Sofa sitzt und über die generelle Unzufriedenheit der Menschen spricht.
„Ob arm, ob reich, sterben müssen wir alle, ob in einer Hütte oder einem Palast. Vier Wände um sich herum und ein Dach über dem Kopf, mehr braucht es nicht“, und dann lacht sie ihr mich ansteckendes Lachen. Vier Wände, ein Dach, einen Freund und eine Flöte – ergänze ich.
Kaum, dass der Schnee geschmolzen ist, klingeln die Glöckchen, strecken sich frische, grüne Spitzen ihrem Erblühen entgegen. Ich kaufe im Dorfladen keine Narzissen, auch keine Tulpen, ich warte. In meinem Zuhause blühen die vielfarbigen Kunstgewächse von anderen und mir an den Wänden. Jedes hat eine eigene Geschichte. Manche können sie lesen, wie meine Leerstellen zwischen Zeilen und Worten.
Zugewandtheiten aus mehr oder weniger Entfernungen wachsen mir zu. Noch immer und immer wieder staune ich über bunte Post mit Persönlichworten, garniert mit Buchgeschenken in meinem Postkasten. Über eine Tüte voller Lebensmitteln vor meiner Wohnungstür, über ein Zweistundentelefonat mit einer mir eigentlich Unbekannten. Wir rühren uns gegenseitig zu Tränen. Ich staune auch über die Freundin, die mir sagt was sie von mir lernt. Dankbarkeit, die sich schreibt, spricht und spürt – groß und tief.
Reichtum zwischen den Regalen, den Sperrmüllmöbeln, inmitten der erzählenden Kunstgewächse. Zimmerreisen ist ein warmes Wort. Ich reise allein, durch die Wanderdünen meines Seins, weil ich es so will – noch.
Eine sagt, dass sie noch Zeit braucht – viel Zeit. Ich denke an die hübschen, braunen Kühe, die mit ihren warmen Leibern den Schnee unter sich zum Schmelzen brachten, an ihr genüssliches Wiederkäuen und an ihre sanften, braunen Augen. Vieles will lesen gelernt werden. Das ganze Leben braucht es. Wie sprechen und hören lernen, laufen auch, der angemessene Schritt auf welchem Terrain auch immer noch. Die feine Note des Apfelkompotts und der Sonate, des gesprochenen, geschriebenen Wortes. Wohlklanghaftes zu Linien und Punkten. Das Herunterbrechen der Fülle zu einer Essenz auf Leinwand, auf Papier – Bild, Wort, Form, Klang, Silbe, Zeichen. Vermittler zwischen Eigensein und Welt.
Oder wie Mary Bauermeister sagt: Den Dingen eine Ordnung geben.
(Danke Frau Wildgans – der Filmtrailer führte mich vom Höcksken aufs Stöcksken)
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