Vorüberfließende Zustände

Auch Erstarrung ist ein vorüberfließender Zustand

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Hell scheint die Sonne. Kinder haben sich eine Schlinderbahn gemacht. Auf den Po fallen gehört dazu, kurzes Verdutztsein, dann lachen, aufstehen, weiterschlindern. Die Mutter und ich lächeln uns an. In der Ferne tobt ein Hund über die verschneite Wiese. Er jagd Schneebälle, die sein Herrchen wirft. Woanders eine bunte Familie auf weißem Schnee, Vater Mutter, Kind, zwei Hunde, Farbkleckse im Weiß.

Die Pferdemenschen bringen ihre Tiere auf die Weide, wohl weil sie frische Luft brauchen? Das Gras wächst nicht unter dem Schnee – oder? Die braunen Kühe liegen auf der kalten Erde und käuen genüsslich wieder. An den fast zugefrorenen Teichen frage ich mich was die Kois wohl unter dem Eis machen, was sie dort unten zu fressen finden und sehe viele zerplatzte Schneebälle auf der vereisten Oberfläche liegen. Das sieht lustig aus. Ein Tag voller Hier und Jetzt, gepaart mit meinen Kinderwintern.

Wieder kreuzt sich mein Weg, wie so oft, mit dem, den ich den Traurigen Mann nenne. Wir gucken uns – wie immer – kurz an. Ich grüße. Er grüßt zurück. Ob er mich die Freundliche Frau nennt, ob er mich überhaupt nennt? Er kommt aus einem fernen Land, das sehe ich und seine traurigen Augen. Sein Guten Tag verrät keinen Akzent. Er spricht so leise. Ich gehe noch eine Weile, bis ich nicht mehr über ihn nachdenke.

Ein anderer Mann kommt mir entgegen, sein Hallo ist offen. Ich stelle fest, dass ich mit immer weniger Angst einzelnen Männern im Wald begegne. In meinem Alter gehört frau nicht mehr zum Beuteschema. Weniger Angst hier, mehr dort, zum Beispiel vor den sehr glatt gelaufenen Wegen, sie sind rutschig. Ich will nicht fallen. Obwohl ich es ja wie die Kinder machen könnte, kurzes Verdutzsein, dann lachen, aufstehen, weiterschlindern.

Aber eigentlich sind meine Gedanken beim Eis, bei dem filigranen und durchsichtigen, dem dicken und milchigen, bei der Durch- und Klarsicht, bei der Draufsicht und der Dichte, die jeden tieferen Blick verhindert. Und ich denke erneut an die zugefrorene Ostsee und dem Schwarzweißfoto – irgendwo in meinem Archiv – von der zartkleinen, gefrorenen Welle, ganz weit draußen auf dem Meer. Wie ich sie in der Ferne gesehen und mich an sie herangepirscht habe – unter meinen Füßen die gefrorene See. Eine Freundin nannte das Foto poetisch.

Die obigen Bilder zeigen das andere Eis, am Rand des Waldweges, das deswegen so anders ist, weil es in einem sehr langsam fließenden Rinnsal enstanden ist. Es zeigt eine Verquickung: das gefrorene Laub des letzten Herbstes unter dem Eis des jetzigen Winters, mit dem Versprechen auf Frühling, der nicht mehr fern ist. Es zeigt, dass die Formen abhängig vom Fließen und Strömen sind, von viel und wenig Wasser, von dem, was ihm Halt gibt, damit es überhaupt wachsen kann. Woran hält sich eine Welle fest?

Alles was fließt kann erstarren, alles was einmal erstarrt ist kann wieder ins Fließen kommen.

Und überall und immer die Vögel – im Eis, neben und auf dem Weg und im Himmel; die Amselriche, das Rotkehlchen, die Stare, die Blaumeise, der Rotmilan, die Rabenkrähen, die Spatzen, der Lachende, dessen Namen ich nicht weiß und das Kikeriki des Hahnes als ich wieder ins Dorf komme.

 



Ich wünsche euch allen eine gute Woche.

Für die, die keinen Winter mögen: „Nur Geduld, es ist noch immer wieder Frühling geworden.“ (Frei nach Tomte Tummetott – Astrid Lindgren)


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65 Gedanken zu „Vorüberfließende Zustände

  1. Sehr schöner Beitrag, Chapeau!

    Zu folgendem auch:
    „Ein anderer Mann kommt mir entgegen, sein Hallo ist offen. Ich stelle fest, dass ich mit immer weniger Angst einzelnen Männern im Wald begegne. In meinem Alter gehört frau nicht mehr zum Beuteschema. Weniger Angst hier, mehr dort, zum Beispiel vor den sehr glatt gelaufenen Wegen, sie sind rutschig. Ich will nicht fallen. Obwohl ich es ja wie die Kinder machen könnte, kurzes Verdutzsein, dann lachen, aufstehen, weiterschlindern.“

    Das mit dem Beuteschema glaube ich nicht.

    Gestern bin ich auch heftig gefallen, es war unvermutet glatt.
    Dem Schuträger ist dabei nix passiert, auch nicht der Kamera und auch nicht dem Hany in der Gesässtasche.
    (Mit den Händen stützte ich mich nicht auf, was gut war.)

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  2. Was für wunderbare Fotos! Und was für eine gute Beschreibung des Jetzt-Zustandes. Mit einer zuversichtlichen Perspektive. Denn aus dem Eis wird wieder fließendes Gewässer werden, die Minusgrade bewegen sich in den zweistelligen Plusbereich (jedenfalls bei uns), die ersten Schneeglöckchen lassen sich nicht abschrecken. Die Natur nimmt ihren Lauf. Und wir folgen ihr!
    Herzliche Grüße schickt Elvira

    Gefällt 3 Personen

    • Liebe Elvira, wie draußen, so der Seelengang. Eine gute Erinnerung für mich, dass nichts so bleibt, wie es gerade ist.
      Ich wünsche dir eine leichte Woche.
      Liebe Grüße
      Ulli 🌺

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  3. Panta Rhei, alles fließt, liebe Ulli.
    Auch in der Erstarrung ist das deutlich erkennbar. 🙂
    Deine Begegnungen beim Spazierengehen haben etwas traurig, sinnliches. Wirst du den Mann irgendwann ansprechen? Mehr sagen als Guten Tag?
    Liebe Grüße von Susanne

    Gefällt 4 Personen

  4. Wunderschöne Bilder! Und deine poetischen Worte passen gut dazu. Der melancholische Mann scheint einen bestimmten Aspekt des Winters zu beschreiben. Die spielenden Kinder einen anderen…. . Insgesamt haben Winter und Eis etwas Magisches, finde ich.
    Liebe Grüße an dich
    Maren

    Gefällt 4 Personen

    • Auch für mich ist der Winter magisch in seiner Formenvielfalt. Gegen die Kälte helfen Schichten und Bewegung.
      Diesen Mann treffe ich seit dem Sommer, er rührt mich jedes Mal an.
      Liebe Grüße
      Ulli 🌺

      Gefällt 1 Person

  5. Beim Lesen und Betrachten Deiner Fotos sah ich mich – nicht im Wald – aber auf den Mainwiesen bei meinen täglichen Spaziergängen und hatte das Knacken und Knirschen im Ohr, wenn die zarte Eisschicht unter meinen Schritten brach. Schnee liegt hier noch wenig und man muß aufpassen beim Laufen; ich weiche dann eher auf die Wiese aus, als die ausgetretenen Pfade zu benutzen. Der Winter ist auch ein Zauberer und hier bei mir genieße ich die wenigen knackig kalten Tage.
    Lieber Gruß von einer auch Undurchsichtigen, wobei ich festgestellt habe, dass fast immer die ganz jungen Männer grüßen und Grüße erwidern.

    Gefällt 3 Personen

    • Insgesamt grüßen mich auch eher Männer, es gibt aber auch Frauen mit denen ich Lächeln und Gruß austausche. Hier ist das gegenseitige Grüßen noch normal. Gut so!
      Hier wird es nun auch wieder wärmer, der Himmel hat sich über Nacht eingegraut.
      Liebe Grüße an dich,
      Ulli

      Gefällt 2 Personen

  6. Herzliche Grüße in deine Zauberwelt, liebe Ulli. Du bist selbst eine Zauberin in Wort und Bild.

    Hier hat es in der Nacht geschneit, das entfernte Dorf, das man nachts am Berg leuchten sieht, ist eingeschneit. Auch Athen. Als noch Ältere, dazu Fremde, werde ich unterwegs von allen gegrüßt und grüße natürlich auch. Bedroht fühle ich mich nirgends, werde aber von manchen gefragt, ob ich mich nicht fürchte, so allein unterwegs.

    Gefällt 3 Personen

    • Ich danke dir, Gerda!
      Ich bin froh, dass es in unserer Gegend noch normal ist sich gegenseitig zu grüßen, fast alle machen das, wenn auch nicht alle. Diese Frage kenne ich auch, besonders noch aus Zeiten des Alleinreisens. Toi, toi, toi, habe ich außer beim Trampen in sehr jungen Jahren, keine doofen Erfahrungen gemacht, trotzdem gibt es diese Furcht, die jetzt kleiner geworden ist, wenn mir einzelne Männer im Wald begegnen.
      Gutes dir und herzliche Grüße
      Ulli

      Gefällt 2 Personen

  7. Wer könnte den Winter bei diesen Fotos nicht mögen? 😁
    Mein Herz ist gespalten: Ich lebe in einer Wohnung, die man schlecht heizen kann, deshalb habe ich die letzten zwei Wochen gefühlt fast durchgehend gefroren. Aber wenn ich nach draußen schaue und gehe, dann ist das die reine Freude … 😁
    Ach, alles wandelt sich, gut ist das.
    Dir eine heitere und leichte Woche, liebe Ulli! 😁❤️
    Mittagskaffeegruß 😁☁️☕🍪👍

    Gefällt 2 Personen

    • Liebe Christiane, du weißt ja, dass ich eine Freundin der vier Jahreszeiten in, jede hat ihren Zauber! Ich bin nicht mehr so der Sommermensch, wenn es total heiß ist, dann ziehe ich mir lieber ein paar Schichten Wolliges an und stapfe durch den Schnee. Das ist nicht immer so gewesen. Eben … das Leben ist Wandel 🙂
      Ich wünsche dir eine GUTE Woche,
      liebe Grüße
      Ulli ❤

      Gefällt 1 Person

  8. Ich liebe diese Kringel und Linien und Muster, die das Wasser in allen Aggregatzuständen erzeugt. Und der Text gehört auch zu jenen persönlichen, die ich sehr gerne lese. Dass man als ältere Frau aus dem Schema „sexuell interessant“ herausfällt, kann – glaube ich – jede reflektierte Frau bestätigen. Dafür finde ich, dass die ganz jungen Männer immer netter und freundlicher und hilfsbereiter werden. Auch nicht schlecht 🙂

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  9. Wunderschöne Eismalereien, manchmal entdecke ich sogar Eis-Leoparden. Jeder kann sich was aussuchen. Seit ich bei meinen Spaziergang einen Fedora-Hut trage werde ich von jungen Frauen gesehen (lach). Schöne Woche.

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    • Gestern dachte ich, dass diese phantastischen Eisformationen die Blumen des Winters sind.
      Ich freue mich ja wirklich immer, Joachim, wenn meine Bilder berühren/gefallen. Hab Dank für deinen Kommentar und liebe Grüße an dich,
      Ulli

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  10. Zauberhafte Eiswelten, diese Formenvielfalt, das erstarrte dahinfließen! Dein Titel dazu ist sehr treffend und gefällt mir. Sagt es doch, daß immer alles möglich ist, sich zu wandeln, sich zu entwickeln. Die Eisbilder sind wirklich hinreißend. Da fängt ein bißchen das Kopfkino bei mir an 🙂 LG Almuth

    Gefällt 1 Person

  11. Liebe Ulli, auch wenn ich mich mit dem Inhalt meines Kommentars mit dem der vor mir stehenden wiederhole: Die Fotos sind prächtig. Ich mag gefrorenes Wasser auch sehr – ich darf nur nicht über ihm stehen und unter mir noch viel Wasser haben – da wird mir mulmig.
    Da jetzt in die Ecke, wo schon deine zwei schönen Bilder hängen, jetzt noch ein drittes dazu kommen soll, was mein Sohn in mühevoller Kleinarbeit befestigen muss, dachte ich heute viel an dich. Mein dickes schweres Bett ist das Hindernis, um vernünftig zwei Löcher in die Wand zu bohren. – Er oder wir werden das hinbekommen.
    Lieben Gruß von Clara

    Gefällt 1 Person

      • Zwei + Eins, ist schon geliefert, 30 x 40, ein lila Löwenkopf, sonst prunken 12 Löwen(familien) im monatlichen Wechsel als Bildschirmhintergrund – gemacht von Mallybeau Mauswohn. Und einen davon habe ich mir rausgesucht und auf Acryl vergrößern lassen. – Sie ist ja auch momentan mittellose Künstlerin.
        NOch einmal herzlichen Gruß

        Gefällt 1 Person

  12. „Alles was fließt kann erstarren, alles was einmal erstarrt ist kann wieder ins Fließen kommen.“ Wie wunderschön du dem Ausdruck verliehen hast, liebe Ulli, zuvörderst natürlich mit deinen Bildern, aber auch mit deinen Worten.

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    • Wenn Worte- und Bilderfluss sich zueinander finden, dann macht auch mich das froh, liebe Maren. Als Sahnehäubchen empfinde ich deinen Kommentar und den von manch anderen. Manche lesen eben auch die Leerstellen. 😊
      Ganz liebe Grüße an dich,
      Ulli

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