Erinnerungsschaukel 07

 

V A T E R

1.

Als ich noch sehr klein gewesen bin, fuhr ich mit der Mutter den Vater besuchen. Wir kamen in ein fremdes Land. Dort gab es ein Meer, Sand, Felsen und einen roten Ball. Das Meer holte sich den roten Ball. Das Land den Vater.

2.

Als ich jung war, trieb mich eine diffuse Todessehnsucht. Ich war die Steppenwölfin. Ich trank billigen Weinbrand, den ich Cognac schrieb. Ich saß in Spelunken. Nur schreibend war ich mir nah.

Langsam nur lernte ich den Lebenden näher als den Toten zu sein.

3.

Der Alptraum hieß „nie-mehr“. Nie mehr würde Vater König wiederkommen. Ich fiel ins Dunkeltal und schwieg. Mit viereinhalb Jahren war ich Inanna gleich. Nackt hing ich am Haken. Meine Retterin war nicht die Dienerin, ich nannte sie Oma.

4.

Als ich durch Bilbao fuhr, war ich fünfunddreißig Jahre alt. Ich suchte noch immer deine Gestalt hinter den Palmen, erkannte aber nur einen Brunnen. Ich suchte dich in jedem Mann. Der an meiner Seite war es nicht. Mir warst du König. Ich war deine Prinzessin. Du trugst mich auf Händen, bis sie nichts mehr tragen konnten.

5.

Der Vater ist tot, Opa und Oma auch. Aber nur einmal bin ich Inanna* gewesen.

2016


* https://de.wikipedia.org/wiki/Inanna


To my English speaking readers: From now on you can read every article of me in English, too, if you’ll go to the end of my blog page, you’ll find the button „Google Translater“. Enjoy!

34 Gedanken zu „Erinnerungsschaukel 07

    • Lieber Arno, wir sitzen auf der Schuakel, nicht wahr?! Hier ist die Leichtigkeit des Lebens, unsere quicklebendigen inneren Kinder und dort ist die Schwere, das traurige, verletzte Kind, beide wünschen sich gesehen zu werden und einen Ausdruck zu bekommen. Mein inneres kleines, trauriges Mädchen hat sich damals gefreut, als ich diese Zeilen geschrieben habe.
      Ganz liebe Grüße
      Ulli

      Gefällt 1 Person

  1. Liebe Ulli,
    du bist eine Göttin! Du bist stolz, du bist du und du bist deiner selbst treu! Das ist meine subjektive Meinung, die auf unserem kurzen Treffen und auf deinen Blog beruht.
    Ich war wie Arno sehr beeindruckt von der Traurigkeit und Wucht der Gefühle, die du uns in knappen Sätzen mitteilst.
    Danke für dein Vertrauen an deine Leserinnen und Leser, Susanne

    Gefällt 5 Personen

    • Liebe Susanne,
      huijuijui … das kann ich gar nicht annehmen. Ja, ich bin ich und ich gehe seit vielen Jahren meinen Weg, auf wenn er steinig und kein einfacher ist, damit bin ich mir treu (geworden).
      Das alles habe ich im Laufe des Lebens gelernt, habe etliche Schleifen damit gedreht und drehe sie immer mal wieder. Nur eine Göttin bin ich nicht und ob ich stolz bin, das kann ich gar nicht beantworten. Stolz ist ja im buddhistischen Kontext ein Geistesgift, dem ich nicht frönen möchte. Wenn du damit meinst, dass ich selbstbewusst bin, im Sinne mir meines Selbsts bewusst, dann kann ich dir gut zustimmen 🙂
      Nun aber danke ich dir von Herzen, dass du dich hast von meinem Text hast berühren lassen.
      Herzliche und sonnige Grüße
      Ulli

      Gefällt 1 Person

      • Liebe Ulli,
        ich empfinde Stolz als ein sehr wichtiges Gut. Sie ist eine Art Belohnungssystem für die eigene geleistete Arbeit. Wichtig ist auch, anderen zu zeigen und zu sagen, wenn man stolz auf sie ist. Es stärkt das Selbstbewusstsein.
        Mit der buddhistischen Lehre kenne ich mich nur sehr oberflächlich aus.
        Liebe Grüße von Susanne

        Gefällt 2 Personen

  2. Ein ganz starker Text. Für mich ein Beweis wie viel Emotion kürzere Texte in eher nüchterner Sprache transportieren können. Das Meer nahm den Ball, das Land den Vater ganz toll, ganz eindringlich…

    Gefällt 3 Personen

    • Ich danke dir, liebe Myriade. Mich macht es seit einiger Zeit traurig, dass ich nun schon so lange nicht mehr wirklich schreibe (-n kann). Es wird Zeit wieder das Ritual der Morgenseiten aufzunehmen. Es waren diese Jahre, in denen ich sie Morgen für Morgen geschrieben habe und dann zu den Essenzen gekommen bin.
      Liebe und sonnige Grüße sende ich dir
      Ulli

      Gefällt 5 Personen

    • Ja, Sonja, so hat sich damals angefühlt und so ist es dann auch geblieben. So vieles in mir suchte und sucht sich einen Weg nach außen, mal sind es die Worte, mal die Bilder. Und natürlich gibt es immer noch etwas, dass angeschaut und befriedet werden will.
      Liebe Grüße
      Ulli

      Gefällt 1 Person

  3. Traurige Erinnerungen, liebe Ulli, und fast traue ich mich gar nicht, etwas dazuzuschreiben.
    Aber die Jahre sind vergangen und ich glaube, von dem kleinen Mädchen bist Du inzwischen weit entfernt. Und doch ist da immer noch ein Kern in uns, der diese Erinnerungen nicht in Vergessenheit geraten läßt.
    Du hast Dich herausgewunden, aus der großen Traurigkeit, aber manchmal, da ist sie wieder da…
    Liebe Grüße an Dich von Bruni

    Gefällt 2 Personen

    • Liebe Bruni,
      ich schrieb es schon oft, dass für mich der einzige Weg gewesen und noch ist, alle meine Anteile zu mir zu nehmen und zu bejahen, sowie meinen Frieden mit ihnen zu schließen.
      Das kleine, traurige Mädchen hat genauso ihren Platz in mir gefunden, wie das quicklebendige, kleine Mädchen und viele andere Anteile auch. Ich habe gelernt, dass Abspaltungen zu seelischen Krankheiten führen.
      Diese Erinnerungen sollen genauso einen Platz und Worte und/oder Worte finden, wie die leichten. Das Leben ist Yin und Yang. Die Schaukel ist deswegen für mich ein schönes Symbol dafür, denn in der Mitte befinden wir uns selten!
      Ich stelle auch immer wieder fest, dass sich die LeserInnen berühren lassen, dass meine Texte etwas in ihnen zum schwingen bringen und das freut mich ganz ungemein.
      Wieso also solltest du dich nicht trauen dazu etwas zu schreiben?
      Liebe Grüße und für heute eine gute Nacht mit schönen Träumen
      wünscht dir Ulli

      Gefällt 2 Personen

      • ja, liebe Ulli, so vieles ist in uns. Das Leben ist Yin und Yang. Wie recht hast Du und es ist mir mehr als bewußt, treffen sich in mir doch auch die traurigen und die anderen vielen Teile. Und alles in einem, das ist dann das, was ich als ICH bezeichne. Du hast eine wundervolle Gabe, Du kannst es rauslassen.
        Warum ich mich kaum traute, etwas dazu zu schreiben? Ich hatte Angst zu verletzen, aber das war vermutlich zu vorsichtig, denn, sich etwas von der Seele zu schreiben tut gut …
        Ganz herzlich, Bruni, mit lieben Grüßen zur Nacht an Dich

        Gefällt 1 Person

        • Liebe Bruni, ich kenne das Zurückscheuen bei Trauer/Traurigkeit auch, aber wann immer ich in Resonanz gegangen bin, fand ich Dankbarkeit und Zugewandtheit. Bei mir und bei den anderen.
          ❤ lichst Ulli

          Gefällt 1 Person

          • ja, das kenne ich auch gut, aber ich mußte es lernen, was gar nicht so einfach war.
            Aber als ich es mir gelang, merkte ich, wie gut es nicht nur mir tat…

            Gefällt 1 Person

  4. Den Vater, den König, der dich zur Prinzessin macht, suchen kann ein Leben lang dauern, liebe Ulli. Glücklich, wer schon früh die Aussichtslosigkeit versteht und sich darauf besinnt, lieber sich selbst zu finden – und die Männer, die man trifft, sie selbst sein lässt.

    Gefällt 1 Person

    • Schön gesagt, Tom, ich danke dir von Herzen dafür.
      Sich mitreißen lassen zu können, hat etwas mit Resonanz zu tun und der Öffnung füreinander.
      Die Reduktion beschäftigt mich schon lange, aber ich verliere sie auch leider immer wieder aus den Augen. Als Stierfrau fröne ich zu gerne der Fülle 🙂

      Gefällt 2 Personen

    • Liebe Priska, ja, der Tod meines Vaters hat mich lange gebeutelt. Irgendwann habe ich Wege gefunden meine Trauer anzunehmen und zu wandeln.
      Liebe Grüße
      Ulli

      Like

Ich freue mich über Kommentare

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..