Erinnerungsschaukel 002

E R S T E  E R I N N E R U N G E N  H A B E N  N A C K T E  B E I N E

Das Mädchen lebte ihre Welt. Tom Sawyer, der dicke Neger Jim, der Mississippi und die Raddampfer, die alte Tante Bessy und Huckleberry Finn waren ihr Land und ihr Volk. Das Land der jungen Träume, wo alles geschah, wie es geschehen sollte. Damals.
Heute ist anders. Ist auch nicht mehr jung. Und doch – irgendwo lebt noch immer das Mädchen. Tanzen nackte Beine mit dem Wasser im Bach, einen Walzer im Bett.

Eine Wohnung unter dem Dach. Eine schlaflose Nacht. Die Hitze des Tages stand noch in den Räumen. Schweiß und Worte rannen aufs Papier. Nur am Tag fand sich Kühle am Teich. Vergangene Kindheitsträume lebten auf. Planschender Weise.
In der Nacht tanzten Schattenfüße über die Wände. Schrieb sich das damalige Jetzt. Über Freund W. zum Beispiel, der von roten Kugeln träumte, wenn er in der Sonne schlief. Vom Sirren der Mücken auch. Über Mottenflügel, die sich an Kerzen verbrannten. Das gestrige Jetzt ins Heute gewebt. Manches bleibt, verändert sich nicht.

Rekordhitzewochen – ein Damals. Man sprach noch nicht von historischen Begebenheiten. Nicht vom Klimawandel. Damals … noch nicht. Von Rekorden schon. Sechs, sieben Wochen lang kein Regen. Nur Hitze. Auch kein Gewitter. Sechs, sieben Wochen Badeteich am Tag, Gedankenfluss und Wortschöpfungen am Abend. Mondfalterbach zum Beispiel. Raddampfer pflügten durch Flusswasser, weiße Sandbänke gesellten sich hinzu, Ozeane und farbige Fischer. Steppen, Wüsten, Eisbären und Pinguine, Bazare im Orient, Wasserfälle und Rentiere, Iglus, Jurten, Tipis standen neben Wolkenkratzern. Highways zogen von hier nach dort. Rote Beeren löschten Durst. Wind kühlte heiße Stirn. Erste Weitsicht grub sich durch schlaflose Hitzenächte ins junge Sein.

Jahre kamen und gingen. Mal mehr, mal weniger Sonnenschein und Badeseen.

In der Erinnerung spielt Kindheit mit nackten Beinen am Badestrand. Nackte Beine hüpfen in Hinkekästchen, schießen Bälle ins Tor, drehen Pirouetten auf Rollschuhen, tanzen Gummitwist. Nackte Arme lassen rote Bälle fliegen. Hin und her. Einen fing das Meer.
Hätte es nicht auch die roten St.-Martins-Äpfelchen gegeben, den vollen Schuh am Nikolausmorgen und die Kerzen am Weihnachtsabend, wären die Beine wohl immer nackt geblieben. Schmelzende Eiskugeln würden stetig auf Sonntagskleider tropfen und Deckenhöhlen auf Baumschatten stehen. Immer würde die Amsel singen, die Spatzen tschülpen, die Knie zerschunden sein. Eine glückliche Kindheit. Vielleicht.
Unbeschwert, unverdorben, unschuldig – das auf jeden Fall. Kindheit erkundete fremdes Land. Ferienzeit. Nackte Füße im Bergbach, Kieselsteine ertastend. Das Mädchen war Tom Sawyer, die Freundin Huckleberry Finn, im Ferienlagertheater.

Vanillepudding mit Johannisbeeren auf seinem Grund. Haare und Röcke wehen im kühlenden Wind auf rotem Fahrrad. Goldgelbe Getreidefelder stehen am Rand.
Unbeschwert. Unverdorben. Unschuldig. Viele Albernheiten. Viel Lachen. Tränen auch. Eben. Nicht immer war Sonnenschein. Nicht immer Ferienzeit. Anderes schob sich darunter.

Erinnerungen liegen nicht chronologisch in den Fächern. Am Anfang jedoch, ziehen immer weiße Wolken über Azur, Schwalben im Geleit. Lagerfeuer am Abend. Lauter Gesang, leises Gebet. Schwimmen im Fluss, im See, durch den Teich, das Becken, den Kanal. Zuerst ist immer Freundschaft, die gemeinsamen Abenteuer, Streiche und Spiele.

Das Andere legte sich darunter. Leicht, leichter am leichtesten bilden die Spitze, schwer, schwerer, am schwersten den Grund.

Heute, an einem der wechselhaften Apriltage des Jetzt, nimmt die Frau ihr Mädchen an die Hand. Gemeinsam wandern sie durch die Sonnenscheintage ihres Seins. Wieder sammeln sie weiße Kieselsteinchen. Mohnblüten, Kornblumen und Kamille tüpfeln ihr Rot, Blau, Gelb und Weiß an den grüngelben Rand. Ausflugsdampfer tuten. Hinterlassen Wellen für die Wassertänzerinnen. Menschen winken und lachen. Blaue Libellen schweben über Mondfalterbach. Schmetterlingsleichte Gedanken lassen sich nicht fangen. Kirschen prall und süß, bunte Blumenwiesen zu Kränzen geflochten.

Gerüche von damals wehen herein. Zwei Eisdielen, zwei Düfte. Die kleine, mit der uraltfaltigen Frau roch nach kühler Milch. Die großdunkelschummerige nach Wärme, Vanille und Zitrone. Eine dritte, die kam, als die Uraltfaltenmilchfrau gegangen war, roch modern – nach Plastikstühlen. Dort ging das Mädchen nicht hinein.
Eine Kugel Eis ein Groschen. Eine Straßenbahnfahrt fünf Pfennig. Eine Karusselfahrt zwanzig oder fünfzig. Manches erinnert sich schlechter als anderes. Weil das Mädchen nie an Geld riechen mochte? Vielleicht.
In den Gärten des Mädchens standen keine Sonnenschirme und Hollywoodschaukeln. Die waren den Reichen vorbehalten. Wie die dicken Teppiche und Kricketrasen auch. Hier wurden andere Spiele gespielt. Leisere. Gezähmtere. Nicht wirklich lustigere. Nicht ihre Welt. Nur manchmal hinein geladen, von Unwohlsein begleitet.

Die Erinnerung beginnt mit dem Duft von warmer Vanille über kühler Milch. Wandert weiter zu den Deckenburgen, zu eisgekühlten Hagebuttentees mit Zitrone und Zucker, hin zum Klingeln des Eismanns an einem anderen Ort. Eis und Wasser. Butterbrote mit gesalzenen Gurkenscheiben. Kaum Berge. Viel Wiese. Kaum Mutter. Viel Freundin und Freund. Viel Tante, Cousinen und Cousins. Viel Lachen. Und immer Schmerz, wenn es Nachhause ging.
Dasselbe Stampfen der Dampflokomotive begleitete abwechselnd das Leichteste und Schwerste. Hinein in die Ferienzeit, hinaus. Hinein. Hinaus. Hinein. Hinaus.
Im Hinaus wohnten andere Freundinnen, andere Freunde. Im Hinein verschwanden Tom und Huck wieder hinter den Buchdeckeln, gesellten sich zu Jim Knopf und Lukas, dem Lokomotivführer. Zu Inga, Lisa, Britta, Kerstin, Lasse, Bosse und Ole, zu den fünf Freunden und den sieben Fragezeichen. Zu Hanni und Nanni ins Internat.
Kürzer werdende Tage. Die Mädchenbeine sind nun wieder von Kniestrümpfen umhüllt, später von verhassten Wollkratzstrumpfhosen.
Die Sehnsucht heißt nackte Beine im Wind. Damals wie heute. Nackte Füße im Bach. Träge in Grünwiesen liegen, blaue Libellenflüge betrachten, abends am Mondfalterbach das Feuer anzünden.
Das Mädchen hat sich vom Gestern ins Heute hinüber gerettet. Wohlbehütet von der Frau. Tropfende Eisschmelze auf Baumwollblusen, nackte Füße in eiskalten Bächen, nackte Beine vom Wind umspielt.

In den ersten Erinnerungen tanzen nackte Füße und Beine im Bach, ziehen weiße Wolken über Azur, Schwalben im Geleit.

21.06.2012

57 Gedanken zu „Erinnerungsschaukel 002

  1. Deine fabelhafte Geschichte war für mich, als ob ich unter einem Wasserfall stände und erfrischend aus dem tosenden Ideenstrom ausstieg, um dir für diese unendlich schöne Ideenwelt zu danken. Wow, würden die Amerikaner sagen. Viele liebe Grüße aus Kanada, liebe Ulli!

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    • Ich hatte gerade diese Idee: Wir könnten daraus ja ein Projekt machen – Erinnerungsschaukeln von allen, die darauf Lust haben! Das fände ich toll!
      Gutes dir und liebe Grüße
      Ulli und dankeee 🙂

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        • Ja, ich mache mit, habe ich schon auf twitter geschrieben. Klasse ist auch dein Video, hat mir sofort meine Frage beantwortet wie ich das mit der Leinwand machen soll 🙂 Geteilt habe ich es auf twitter auch schon .

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  2. Zauberhaft, saß neben Dir auf der Schaukel mit nackten Füßen. Ich glaube, ich nehme mal meine Kleine an die Hand und hüpfe mit ihr eine Runde durch den Garten – habe schon ganz eckige Augen vom Tippen in die Weltenkiste.

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  3. Gestern beim Spaziergang in der Sonne tauchte der Gedanke daran auf, wieder unter und jetzt wieder auf. Mit nackten Beinen, einem selbstgebauten Kescher und einem kleinen Eimer im Bach stehen und Stichlinge fangen. Die Beute stolz nach Hause tragen. Lernen, dass Flussfischchen auch in einem großen Eimer nicht überleben.

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    • Mein Bruder hat immer Stichlinge für sein Aquarium gefangen. Ob sie überlebten weiß ich nicht mehr, er war ja 11 Jahre älter und ich war da noch sehr klein.
      Schön, dass du mitgeschaukelt bist.
      Liebe Grüße
      Ulli

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  4. Oh wie wunderbar! Poetisch, bildhaft! Ich bin gerne mit Dir mitgeschaukelt, auch wenn meine Erinnerungen in vielem andere sind. Trotzdem habe ich eben das Kratzen von Wollstrumpfhosen gespürt 😉
    Sei herzlich gegrüßt
    Ines

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  5. So lebensvoll, farbig, voller Gerüche, Bewegung, Lachen. Ich würde gern mitschaukeln, aber es geht nicht, denn über allem Anfang liegt ein dunkler Schatten,den ich nicht lichten kann und der die Erinnerungen aufsaugt. Traurig.

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    • Das ist wirklich traurig, liebe Gerda.
      Ich schrieb ja, dass sich das Schwere (bei mir) darunter legte, damit meinte ich den Tod meines Vaters, als ich viereinhalb Jahre alt gewesen bin und der der Großmutter als ich 8 Jahre alt gewesen bin. Weiter steht dort: wenig Mutter, das ist eine Tatsache, sie war nur selten für mich da und als die Großmutter starb war ich oft und viel allein. Trost fand ich bis ich 11 wurde bei den vielen Kindern auf dem Hof und in den Ferien bei meiner Tante, ihrem Mann und ihren Kindern, sowie im Mädchenferienlager, so habe ich in dieser Geschichte die hellen und bunten Flecken zum Leuchten gebracht, ohne, dass ich das andere benannt hätte/habe.
      Aber du bist noch im Krieg geboren, dein Vater kam nicht mehr zurück, das ist ein anderes Schicksal! Und vielleicht verschüttet dies ja die hellen, bunten Flecken? Meine Erinnerung ist allerdings auch ziemlich schmal und setzt eigentlich erst so richtig mit 7/8 Jahren ein, da frage ich mich auch immer was da los war/ist.
      Herzliche Grüße
      Ulli

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  6. Die Begriffe und Kurz-Geschichten des lebendigen Lebens hast Du zusammengestellt. Bald sollen die ab 50- 60 in Quarantäne – nee unsere Gesundheits-Senatrorin von Berlin meinte nun ab 70 selbstverpflichtend

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    • Ein Abschnitt meines Lebens konnte ich so zusammenfassen, ja. Wie schon im ersten Beitrag der „Erinnerungsschaukel“ geschrieben, war ja nicht alles so leicht, leider nicht!
      Ich habe nur noch Kontakt zu meiner Tochter und den Enkelkindern, auch wenn davon immer abgeraten wird, weil Kinder Überträger sein können, aber darauf bin ich nicht bereit auch noch zu verzichten. Wir hatten heute einen schönen Tag.
      Gutes dir.
      Liebe Grüße
      Ulli

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    • Milchreis gab es bei uns nie, aber besagter Vanillepudding im Sommer, mit gezuckerten roten Johannisbeeren unter ihm, so fein!
      Schön, auch du bist mitgeschaukelt, das freut mich, liebe Erika.
      Herzliche Grüße
      Ulli

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  7. Ultrafaltenmilchfrau!!
    Tolles Wort.
    Der Text könnte zum Teil von der Gräfin stammen. Sie hat Tom und Huck verschlungen, in Romanform, in dieser wunderbaren, das Herz kultivierenden Sprache von Mark Twain, wie sie einst meinte.

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  8. Ein so schöner Erinnerungstext, liebe Ulli, der mich an vieles erinnert und an anderes nicht. Ein Auf und Ab lese ich mich Nachhinein in Deinem Kommi zu Gerda. Das prägt sehr, wobei ich durch meine anderen Erinnerungen natülich auch geprägt bin, aber in anderer Weise… Einen Satz, ziemlich zu Anfang, mag ich noch mehr als die anderen
    * nackte Beine tanzen mit dem Wasser im Bach einen Walzer im Bett * Deine Freiheitsliebe kam hier schon Gestalt an, während meine, die sich auch deutlich zeigte *g*, lieber zurückzog, denn sie brachte mir Strafen und Verdruß…
    Vernunft und Beherrschtsein wurde gefordert… zu viele Jahre… Da verzog sich meine Freiheitsliebe in mein Inneres und wurde viel später erst wieder geweckt.
    Aber das Schöne und das Andere, das wechselt sich ab, immer wieder
    Bald wird es Dir wieder besser gehen, liebe Ulli
    Deine Kraft kehrt zurück und die Kraft des Virus wird hoffentlich abnehmen.
    Ganz herzlich, Bruni

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    • Liebe Bruni,
      es war ja mir verboten mit den nackten Füßen im Bach zu tanzen, jo, ich machte es trotzdem, oft wurde ich dann heiser, war mir aber egal, Hauptsache mit dem Bach tanzen. Das war in den 3 katholischen Mädchenferienlagern … auch dort war nicht alles toll, ich kam durch. Aber dieses Trotz-dem hat natürlich auch Fallen und Konsequenzen und die haben auch etwas mit mir gemacht, was hier nur nicht steht. Wie hier Vieles nicht steht, was aber noch in anderer Weise kommen wird.
      Herzliche Grüße
      Ulli

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  9. Ja, liebe Ulli, Deine Erinnerungsschaukel geht weiter und vieles wird folgen, was wir jetzt noch nicht ahnen.
    Ich persönlich erinnere mich gerne zurück, an das, was war und dabei kommen auch die erinnerungen wieder hoch,
    die schmerzlich waren und es tut gut, sich in dieser Weise erinneren zu können, um nach langer Zeit vielleicht
    doch noch das eine oder andere zu verdauen, oder wenigstens, es zu versuchen…

    Ich wünsche Dir eine gute Nacht, liebe Ulli
    Ganz herzlicxh, Bruni

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    • Es ist gut, liebe Bruni, alles zu sich zu nehmen und zu bejahen. So hat es Chance uns zu zeigen welche Ressource wir dadurch aktiviert haben, vom eigenen inneren Frieden ganz zu schweigen.
      Wenigstens erlebe ich das so.
      Ich wünsche dir viel Gutes und eine gute Nacht, herzlichst, Ulli

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