Der blaue Weg ist ein Buch von Kenneth White. Er schrieb es in den 1980er Jahren und beschreibt hier seine Reise nach Labrador. Labrador? Ich hole meinen Atlas zur Hilfe, es ist eine Provinz im Nordosten Kanadas. Kalt ist es dort und auch etwas unwirtlich. Einst Wohngebiet der Inuits und anderer nordamerikanischer Ureinwohner*innen.
Kenneth White, geb. 1936 in Glasgow, studierte französische und deutsche Literatur, Latein und Philosophie. Sein „Reisebericht“ ist philosophisch beobachtend, manchmal auch sarkastisch, wenn es um die Besiedlung und Missionierung/Christianisierung durch die Europäer geht.
Es ist auch ein Buch, das von der eigenen Suche erzählt, der Suche nach Stille, nach Natürlichkeit, dem Lied der eigenen Seele.
Es beginnt mit neun Stelen, dies sind neun Zitate anderer Literaten, hier sind sie:
Reisen scheint mir eine nützliche Übung. Die Seele ist dabei in ständiger Bewegung.
Montaigne
Zu jedem Preis und mit allen Tönen, selbst auf metaphysischen Reisen.
Rimbaud
Unsere Zeit ist besonders dadurch gekennzeichnet, dass sie schal ist – schal wie die Literatur. Vordringen in eine neue Welt und dort Bewegungsfreiheit, Neuheit erleben.
William Carlos Williams
Ich bin Rothaut, blauer Bauch, goldener Kopf … Ich mache mich auf, ich haue ab, ich gehe in den Untergrund … den Untergrund der Seele.
Delteil
Echte Kultur kann nur im Raum gelernt werden … Kultur im Raum heißt Kultur eines Geistes, der unablässig im Raum atmet und sich leben fühlt und der Körper des Raums als Gegenstände seines Denkens zu sich ruft.
Artaud
Er muss immer ein bisschen weiter weg gehen, da ist sein einziges Zuhause.
Bataille
Blaue Seele, dunkles Wandern.
Trakl
Wer fremd ist, wandert vorwärts. Er irrt nicht ohne jede Bestimmung ratlos durch die Welt. Er ist auf der Suche nach dem Ort, wo er eine Bleibe finden kann.
Heidegger
Der Weg vollendet sich. Der Schnee fällt in tausend Flocken. Mehrere Rollen blauer Berge sind gemalt worden.
Shōbōgenzō
Kenneth White selbst schreibt im Vorwort:
Was ist denn ein blauer Weg? wird man fragen. Ich weiß es selbst nicht genau. Da ist natürlich das Blau des weiten Himmels, da ist das Blau des Flusses, des mächtigen Sankt-Lorenz-Stroms, und weiter weg dann das Blau des Eises. Aber all diese Bilder und noch ein paar andere, die mir einfallen, wenn sie zu mir, zu meinen Sinnen und meiner Einbildungskraft, sprechen, reichen bei weitem nicht aus für die Tiefe des „Blaus“.
Ist es also etwas Mystisches?
Ich möchte mich hier nicht auf eine Diskussion über dieses abgedroschene Wort einlassen (etwas viel Lebendigeres ruft uns), aber wenn ich im Geist einen Augenblick in der Sphäre verweile, fällt mir ein, dass in gewissen alten Überlieferungen vom wandernden Mystiker die Rede ist und davon, dass ein Mann, der in „westlicher Verbannung“ lebt und seinen „Orient“ finden will, den Norden passieren muss …
…Der blaue Weg, das ist vielleicht einfach der Weg des Möglichen.
Jedenfalls wollte ich hinaus, dorthin, und sehen.
Und weiter schreibt er:
Seite 11 und 12
Lange Zeit habe ich versucht, mich eines dicken Buches, eines der dicksten, die es gibt, und das mich erdrückte, zu entledigen und der ganzen geistigen Verwirrung, die es gestiftet hat. Ich wollte der Besetzung der Welt durch Jehova und ein paar anderen entfliehen. Das ist vollbracht. Aber ich muss auch weitergehen. Nach Labrador. Ja, dort schließt sich der Kreis, dort kehre ich an meinen Ausgangspunkt zurück, schlucke meine Geburt, entwickle alle Negative meiner Adoleszenz und werf einen ernsthaften Blick auf mein ursprüngliches Gesicht.
Was ich im Moment brauche, ist Raum, ein großer Lebensraum für die letzte Meditation.
Seite 22 und 23
Institutionen und Individuen werden nie dieselbe Wellenlänge haben. Deshalb bin ich Anarchist. Ein lachender Anarchist.
Seite 33
Der Indianer wird nach und nach verdrängt. Der Eindringling wird zum Einwohner, und der Eingeborene wird unerwünscht.
Seite 44
Wir fahren durch den Kenogami Wald, dann den Lac Saint-Jean entlang.
Ich frage mich, wann wir diese ganze biblische Toponymik endlich loswerden. Den indianischen Namen dieses Sees kenne ich nicht, aber ich möchte wetten, dass er schön war und genau. Vielleicht hieß er Blauer-Wellen-See oder Sommerstürme-See oder Viele-Bäume-See. Benannt von Leuten, die ihn wirklich kannten, die mit seiner physischen Realität in Berührung kamen. Aber Lac Saint-Jean, ich bitte Sie! War der heilige Johannes denn hier? Von wegen! Er latschte durch Galiläa. Und die Leute, die den See Lac Saint-Jean getauft haben, waren auch nie wirklich hier. Ihre Hinterköpfe klebten an einem dicken schwarzen Buch. So verpassten sie der Wirklichkeit Namen aus diesem Buch und gingen hin und arbeiteten und vermehrten sich, wie das Gesetz es ihnen befahl. Das ist Kultur, um welches Buch oder Gesetz auch immer es sich handelt. Und das hat nichts zu tun mit all ihrer Schönheit empfundenen Wirklichkeit. Deshalb konnte Flaubert sagen, dass „die Kultur eine Verschwörung gegen die Poesie“ ist.
Seite 57
Dieses Buch hat mich zu einem eigenen Text inspiriert, der dieser Tage folgt.
Kenneth White – Der blaue Weg – Eine Reise ISBN 3-596-25343-8 – das Buch ist nur noch antiquarisch zu bekommen, man muss etwas forschen, damit es erschwinglich ist.
Eine Menge Denkanstösse gehen von diesem Zitate-Patchwork aus. Ich bin gespannt auf deinen eigenen Text.
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Und das ist nur eine kleine Auswahl der Denkanstöße, ich wollte euch nicht überfrachten …
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ich las grad dies: https://www.cbc.ca/radio/thecurrent/the-current-for-november-13-2018-1.4902679/indigenous-women-kept-from-seeing-their-newborn-babies-until-agreeing-to-sterilization-says-lawyer-1.4902693
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Danke Gerda, das muss ich mal in Ruhe lesen, bin schon wieder gleich weg. Es will einfach nicht beschaulicher werden … heute Abend, dann –
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Ich bin dieser Tage auch ziemlich am Rotieren. Die Zitate sind wirklich sehr anregend, auch zum Widerspruch, aber mir steht grad nicht der Kopf danach. Hab einen geruhsamen Abend, Uli! Von Herzen Gerda
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Alles gut, liebe Gerda, ich klebe gerade die bestellten Postkarten auf, damit sie morgen auf die Post gehen können und höre dabei gradiosen Jazz.
Manche Zitate regen auch meinen Widerspruch, ich hatte ja gaaanz leise gehofft, dass im Kommentarstrang ein bisschen diskutiert wird, aber nun, wahrscheinlich stehen die Köpfe gerade alle in anderen Richtungen 😉
Auch dir noch eine stille Freude am heutigen Abend, herzliche Grüße, Ulli
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die Diskussion kommt ja vielleicht noch. jetzt habe ich erstmal meine tägliche Zeichenübung absolviert. ich hoffe, du hast viel zu kleben! 🙂
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Hochinteressant klingt es. Wie es sich liest und wie ich es finden würde, kann ich so noch nicht wissen. Die Zitate hab ich gelesen und mir eines herausgepickt, das mir sehr gefällt, liebe Ulli
* Ich bin Rothaut, blauer Bauch, goldener Kopf … Ich mache mich auf, ich haue ab, ich gehe in den Untergrund … den Untergrund der Seele. Delteil *
Herzlichst, Bruni
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Liebe Bruni, das ist ein Zitat, dass ich auch mag, das auch keinen Widerspruch in mir weckt. Ich mochte das Buch sehr, da es viele Denkanstöße gibt.
Herzliche Dienstagmorgengrüße, Ulli
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mir gefällt dies Zitat auch, weil es so farbenfroh ist 🙂 Dennoch gleich ein Aber: Was heißt hier „ABHAUEN“ UND „Untergrund der Seele“? Bisschen großspurig, scheint mir.
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ich stoße mich weder an „abhauen“, noch an dem Untergrund der Seele, ich begreife es so, dass jemand sich in sich versenken will.
Klar, man kann in dem Sinne nicht abhauen, aber man kann ins retreat gehen und damit der Welt für eine Weile den Rücken zukehren.
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Für eine Weile der Welt den Rücken kehren, das gefällt mir sehr, aber er gräbt tiefer…
Muss er das?
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Ich denke, dass jeder Mensch eine Mischung ist, aus dem wozu sie/er sich hingezogen fühlt, was dann auch ein MUSS (auf persönlicher Ebene) sein kann und dem was das Leben, die Gesellschaft „fordert“.
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Die Sprache ist ein wenig deftig durch das Wörtchen Abhauen, aber der Grund der Seele fängt es für mich wieder auf, liebe gerda.
Es klingt etwas anders als feingestrickt, aber auch deshalb mag ich es und wegen der Farbenfreude 😊
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Du merkst , aus dem Untergrund hab ich gleich GRUND gemacht *g*
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