Dunkelkammer

Auf der Suche nach der Dunkelkammer läuft sie durch ihr Erinnerungslabyrinth -Treppen hinauf und hinunter, lange Flure, viele Türen und der Schlüssel bleibt verschwunden.

Gab es einen Anfang oder war es der fließende Übergang vom Mädchen zur jungen Frau; noch so jung und noch so klein. Das einst so große Mädchen wuchs nicht mehr. Erst hatte sie alle Gleichaltrigen überragt, dann gehörte sie plötzlich zu den Kleinsten, wenn auch nicht zu den Schmächtigsten.

Laufen war nie ihre Disziplin gewesen, hoch springen schon, Stufenbarren und Schwebebalken auch und unter der Woche die Fußbälle der Jungen halten.

Ob Spirale oder Labyrinth, es gilt einen Punkt zu erodieren. Dann eben der Umzug. Alle Freundinnen und Freunde blieben zurück, kein Hof mehr, kein Völkerball am Nachmittag, keine Torbewachung unter der Woche; nur öde Einfamilienhäuser in Reih und Glied und ein Ort, den sie Mettwurst nannte. Noch im Umzugswagen hatte sie geheult und gezetert

-Ich will nicht nach Mettwurst!

Ab jetzt wurde der Schulweg lang, er reichte von 6h am Morgen bis kurz nach 15h am Nachmittag. Zwei Busse hin, zwei zurück und keine Freundin mehr am Nachmittag, nur eine Kastanie vor ihrem Fenster. Immerhin. Auch keine Freundin in den Schulbänken. Nonnen als Lehrerinnen oder verschrobene Fräuleins, keine Lehrer, nur Jesus hing am Kreuz und mit ihm waren alle Nonnen verlobt. Nun denn… Die Mitschülerinnen kamen aus reichen und neureichen Familien, sie war das Bahndamm-Keller-Kind und sprach ihre Sprache nicht.

All das blinkt jetzt wieder auf, wie schon so oft, wenn sie sich auf die Suche nach der Dunkelkammer begibt. Und dann, gerade jetzt, fegt der Sturm in ihr Zimmer hinein, mit einem lautem Krach fällt ein Stein von der Fensterbank, die Stiftetasse fällt um, nichts ist zerbrochen. Soll sie aufhören? Sie glaubt an Zeichen.

Doch genau in diesem Augenblick erinnert sie sich wieder: es ist neun Jahre her, als sie dem Wald ihre Lebensgeschichte erzählt hatte. Alles Unsägliche hatte sie ausgesprochen, alles Dunkle war ans Licht gekommen – und alle Scham. Am Ende hatte sie sich selbst im Arm gehalten: wie klein sie noch gewesen war, wie groß sie hatte sein müssen und wollen und Mutter war mit sich beschäftigt gewesen.

Das Blut war viel zu früh gekommen, wie immer alles viel zu früh gekommen war: der Tod, die Schule, die Fruchtbarkeit, die Anzüglichkeiten, der Verlust, die Einsamkeit, die Zigaretten, die Mutproben, der Alkohol. Mitten im Wald war die Türe der Dunkelkammer aufgesprungen, alle Dämonen waren auf einmal herausgestürmt. Zuerst hatte sie geschrien, dann geflüstert, dann geweint, dann war auch das vorbei. Sie hatte einen Besen genommen und allen Unrat dem Wald für die Kompostierung übergeben, die Dämonen hatte der Wind mitgenommen. Über ihr spannte sich der blaue Himmel, er war Trost und Schutz in einem, unter ihr die Erde, die sie hielt. Sie ging zum Fluss.

Nichts geht verloren, nichts bleibt wie es einmal gewesen ist und nicht alle Geschichten muss ich teilen.



für tikerscherk →

39 Gedanken zu „Dunkelkammer

  1. Ganz großes Kino, ich erinnere selbst wie ist als ‚Alien‘ aufzuwachsen, 95 km südwestlich von München in einer Gegend von Bayern die ‚Schwaben‘ hieß oder heisst, als Kind zweier echter Berliner…. Die Kinder auf der Straße verwenden Worte, die in meinen Ohren fremd sind, mein Vater ging arbeiten, die Väter der anderen Kinder gingen ‚Schaffen‘ usw.
    Schönen Start in die Woche
    Tobias

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  2. Du nimmst mich mit auf die Reise in die Vergangenheit und sofort beginnt auch bei mir eine Bilderflut. Du schreibst so lebendig, so den Kern treffend. Glückwunsch für diese Gabe. Sag mal, gibt es bei dir schon Schnee? Eine neugierige Marie

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    • Liebe Marie, ja, es hat von Samstag auf Sonntag geschneit, aber es hat dann auch gleich am Sonntagmorgen angefangen wieder zu tauen, Reste sind noch sichtbar, die Straßen sind aber frei.
      Herzlichen Dank auch für deins zu meiner Schreibe, das freut mich immer sehr.
      Ich wünsche dir eine gute Woche und einen schönen Tag,
      liebe Grüße,
      Ulli

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    • sehr gerne, liebe Erika, ich freue mich ja immer, wenn meine Geschichten bei meinen Leser -innen ihre eigenen hervorholen,
      ich wünsche dir ein gutes Weitergehen (ich komm dann auch wieder gerne mit 😉 ) und grüße dich herzlich,
      Ulli

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  3. Liebe Ulli,
    die Kombination Collage und Dein Text dazu, gibt Deinem erlebten unglaubliche Tiefe!
    Egal ob positiv oder negativ erlebtes, es ist das Leben schlechthin und gehört zu jeder Persönlichkeit!

    ❤lichst Babsi

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    • Liebe Babsi, zum Happy-End kann ich nur sagen: bis hierhin ist ja alles gut gegangen 😉
      danke auch für deinen ersten Kommentar, ich freue mich,
      herzliche Grüße
      Ulli

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    • DIESE Dämonen sind weg, aber es kamen neue hinzu mit ähnlichem Gesicht, doch erscheinen sie mir lange nicht mehr so gefährlich, als die, die der Wind damals mit sich nahm.
      herzlichst
      Ulli und danke fürs Nachfragen!

      Gefällt 2 Personen

  4. Liebe Ulli!
    Tolle Collage! Aber diese Art von Geschichten macht mich in letzter Zeit stets traurig. Und ich möchte eigentlich gerne schnell etwas anderes, weniger Nachdenkliches, lesen. Ich weiss auch nicht warum. Es ist mir ja klar, dass auch diese Art von Erzählen sein muss.
    Gut daher, dass Du den Besen genommen hast und der Wind den Rest besorgte.
    Liebe Grüße Juergen

    Gefällt 2 Personen

    • Lieber Jürgen, danke für beides, dein Lob und deine Ehrlichkeit.
      Ich habe ja immer solche und solche Phasen und gerade eben war es wieder eine solche. 😉
      herzliche Grüße
      Ulli

      Gefällt 2 Personen

  5. Du hast Dir von der Seele geschrieben, was plagte und dem Wald Dein Leid geklagt.
    Er hörte still zu und der Wind nahm die Dämonen und riß sie in Fetzen
    Eine tolle Geschichte, liebe Ulli

    Liebe Grüße von Bruni

    Gefällt 2 Personen

    • Liebe Bruni, ich habe eher dem Wald mein Leid erzählt, dies hier ist nur eine Zusammenfassung dessen, angeregt durch tikerscherk, die sich gerade erinnert (s.u.) … und dann ging es zwischen ihr und mir darum, dass ich meinte mich nicht mehr zu erinnern und so kam eins zum anderen.
      Ich danke dir für deins und grüße dich herzlich,
      Ulli

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  6. Das ist sehr ergreifend geschrieben. Und deine ausdrucksstarke Collage gibt eine entsprechende Stimmung wieder. Erinnerungen? … ich z.B. kenne, was Hermann Hesse so treffend beschrieb: „Wie von einem Stück Spiegelglas ein Lichtstrahl reflektiert und in einen dunkeln Raum geworfen wird, so blitzt oft mitten im Gegenwärtigen, durch eine Nichtigkeit entzündet, ein vergessenes, längst gewesenes Stückchen Leben auf, erschreckend und unheimlich.“
    Beschreibst du hier solch ein gewesenes Stückchen Leben?
    Du hast recht, nichts geht verloren und nichts bleibt wie es einmal gewesen ist – der Wald und auch der Fluss geben immer wieder Trost und Schutz. Dies waren meine Gedanken beim Lesen deiner Geschichte und beim Betrachten deiner wundervollen Collage.

    Ganz liebe Grüsse und schönen Abend,
    Christel

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    • Liebe Christel, ja, so ist es gewesen, wie du bzw. Hesse es beschreibt, manchmal blitzt etwas auf, aber es war auch eine kleine Herausforderung dahinter von tikerscherk (s.u. und ihr Kommentarstrang und unseren Dialog darin).
      Ich freue mich sehr über deinen Kommentar, auch darüber, dass du die Collage magst, sie ist Ausdruck für den Wald, aber auch für den Bahndamm, an dem ich aufgewachsen bin, sowie einem winzigen Porträt von mir, gerne hätte ich ens aus der Pubertät hineinmontiert, leider habe ich kein Foto aus der Zeit von mir, so musste eins herhalten als ich ca. 18 Jahre alt gewesen bin.
      Herzliche Grüße
      Ulli

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  7. Liebe Ulli, der Text berührt und ist so gut geschrieben!
    Danke für die Anregung, mich auch einmal „erinnern“ zu wollen an all das Verschüttete.
    Und noch dies, lustig: In Mettwurst habe ich, erwachsen, etliche Jahre mit Familie gewohnt.
    Novemberniederrheingruß, Bess

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    • Liebe Bess, sehr gerne geschehen, ich freue mich, wenn mens bei anderen auf Resonanz stößt und auch etwas ans Licht bringt … IMMER.
      Ich bin schon 1975 von Mettwurst weg, da sind wir uns wohl nie begegnet?! Aber eine feine Übereinstimmung ist es dennoch.
      Herzliche Grüße
      Ulli

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