Die Sonne schien auf weißes Winterland, warf Schatten und Licht, ließ Eiszapfen glänzen und weiße Flächen glitzern. Die Augen folgen den Formen, dem Rund im Winterland, alle scharfen Ecken sind verhüllt im weichen Fluss. Glitzerschnee auch in der Nacht. Der Mond nimmt zu. Winterland.
Winterland und Reduktion: kleinere Schritte, Blicke nah bei sich und den voranschreitenden Füßen, langsamere Autofahrten, kürzere Gänge, keine Reisen, weniger Aktivitäten von hier nach dort (Kino, Ausstellungen und so), kaum Ablenkung, weniger Besuche. Formenvielfalt, wenig Farbe, es sei denn ein Wintersportler geht vorbei. Oder der winterblaue Himmel spannt sich über das hohe Tal. Die Moderne weiß wenig von Reduktion, sie redet nur gerne darüber. Mit ihr zu tanzen heisst auch Verzicht. Man muss das aushalten.
Schnitt
„Mit Häusern besiegt man die Wildnis nicht, man mauert sie höchstens ein.“
„… man wird, was man sich wünscht! Was denn sonst? Man wird, was man fürchtet, beides, Shiva tanzt.“
Sabine Friedrich – Nachthaut (S. 197 und S. 245)
Dieses Buch begleitete mich durchs Winterland.
Es erzählt von der Kindheit in einer miefigen, kleinen Stadt, nahe der Ostgrenze. Wir schreiben die 1960ger und 1970ger Jahre – Meine Zeit, meine Generation …
Miefige Kleinstädte sind austauschbar. Die Grenzen leb(t)en in den Köpfen der Eltern, der Erwachsenen, der Traumatisierten und Unwissenden, die ohrfeigten und demütigten. Es erschien ihnen als ihr Recht: es ging um die Verteidigung und Indoktrinierung ihrer Moral und Werte, ohne Bewusstsein für Misshandlungen, Übergriffigkeiten und Missbräuchen.
Kinder, wie Dünenpflanzen:
„… die Dünen sind von Pflanzen bewachsen: Salzmiere Meersenf Strandroggen Silbergras Kriechweide Krähenbeere: Es sind die schwermütigen Namen der Unscheinbarkeit. Namen für etwas, das unter Schutz steht, worüber man aber dennoch hinwegtrampelt: wieso, hier ist doch nichts.“ (S. 92)
„Susannes Mutter schlägt Susanne ins Gesicht, wenn Susanne ihre Kleider blutig macht. Es tut nicht sehr weh, Susannes Mutter schlägt nicht fest zu. Schließlich misshandelt sie ihr Kind nicht! Aber es ist trotzdem ein ekliges Gefühl. Susanne macht vorher die Augen zu, damit sie die Hand nicht auf sich zukommen sieht, aber Susannes Mutter wartet, bis Susanne die Anspannung nicht mehr aushält und blinzelt. Sie sieht dann die Hand auf sich zukommen, sieht die Finger der Hand wachsen, schrecklich schnell größerwerden, dann prallt die Hand auf. Susanne fühlt den Aufprall überall, nur nicht auf der Backe, die heiß wird, obwohl Susannes Mutter ihr Kind nicht misshandelt. Sie fühlt ihn auch in den Beinen, die schwach werden, in den Ohren, die summen, ganz innen im Bauch, wo ihr flau wird und weinerlich und sehr elend.“ (S. 97/98)
Es geht um Susanne, Irmi und Isa. Zunächst sind es drei Mädchen auf ihrem Weg junge Frauen zu werden. Dann kommt der Aufbruch. Isa ist die Erste, die der miefigen Kleinstadt an der Ostgrenze den Rücken kehrt. Dann haut auch Irmi ab. Sie reist über die Türkei, den Iran, Afghanistan (das ging damals noch auf dem Landweg) nach Indien. Susanne studiert in München. Drei Leben, die sich ineinander verhaken.
Das Buch beginnt bei Susanne, die zurück auf dem Weg in die Kleinstadt an der Ostgrenze ist: Klassentreffen. Irmi lebt jetzt wieder dort, sie ist zurückgekommen. Ob Isa kommt? Wer will das wissen, du weißt doch, wie Isa ist, sagt Irmi zu Susanne am Telefon. Susanne weiß aber nicht, wie Isa ist, heute. Sie fragt sich. Als dann später herauskommt, dass seit sieben Jahren niemand mehr etwas von Isa gehört hat, auch nicht die Tante bei der Isa aufgewachsen ist, beschließt Susanne Isa zu suchen.
Susanne kennt die Nachthaut. Manchmal legt sie sich über sie, in der Luft ein hohes Fiepen.
„… sie weiß, ihre Mutter würde sie wegwerfen, wenn sie sie fände. Die Mutter hätte Angst vor Susannes Fledermaus, sie fände die Fledermaus eklig. Aber warum? Die Fledermaus ist trocken und sauber. Sie ist tot, sie tut nichts! Sie ist luftgetrocknet, wie roher Schinken. Ihre Flügel sind aus Dämmerungshaut. Aus Nachthaut.“ (S. 99)
Irmi ist ruhelos. Von Anfang an. Kommt Isa? Sie und Susanne antworten sich nicht, nicht wirklich. Sie lassen aus. Sie bleiben in ihren Antworten an der Oberfläche, behalten das Wesentliche zurück. Das aber erfahren die Leserinnen und Leser. Nach und nach entwickelt sich ein Bild von Irmi, von Susanne. Isas Bild bleibt zunächst verschwommen. Bilder vom Leben als Mädchen auf der Grenze zur jungen Frau an der Ostgrenze. Bilder von den jungen Frauen unterwegs. Jetzt schauen sie schon zurück. Wann fängt das an?
Susanne bricht auf: Nachtzug nach München. Was tue ich eigentlich hier? Ich will Isa finden. Etwas später bricht auch Irmi auf: Susanne finden, die sie mittlerweise auf einer Insel weiß, wohin der Wind Saharasand trägt. Auf eine Insel, wo Isas Spur an einem Faden baumelt.
Suchen, finden, umkreisen, sich und die andere, die Erinnerungen und Jetzt.
Große Lieben, Verluste, Taumel, Verirrungen, Schweigen und Nachthaut. Ein Buch, das mich durchs Winterland begleitet hat, mich nachhaltig beschäftigt und beeindruckt und manchmal mittig traf.
„Geschichten sind Flussbetten.
Sie sind uralte Wadis, ausgewaschen von Tausenden von Versionen, der immer gleichen Geschichten: Noch während man glaubt, sich mühsam einen Weg zu bahnen, ist das eigene Leben schon längst Wasser geworden in so einem uralten Flussbett.“ (S. 183)
Anmerkungen
Sabine Friedrich – Nachthaut – Eichborn AG – Juli 2000 – ISBN 3 – 8218 – 0843 – 8
zu der letzten Fotomontage: die Fledermaus fand ich unter de.engadget.com – danke
„Die Badende“ (hier ohne Schirm) fotografierte ich auf Usedom
Wie bist Du auf genau dieses Buch gekommen? Man findet es, es findet einen. Dabei gehen „unterirdische“ Sachen ab, glaube ich. Es gibt keine Zufälle. Schon allein der Titel. Gibt es und was ist eine Nachthaut? Ich begebe mich auf die Suche, so als Nachtleberin…
LikeGefällt 2 Personen
Meine Freundin brachte es mir mit, mit den Worten, das habe ich gleich zweimal gelesen und sie? Na, ihr Mann brachte es … du hast Recht, liebe Sonja, Bücher finden einen …
Und was eine Nachthaut ist, das erschließt sich beim lesen. Viel Spaß und herzliche Grüße
Ulli
LikeLike
Danke – das möchte ich auch lesen. Könnte in mir mit Ulla Hahns Aufbruch resonnieren.
LikeLike
Das dachte ich mir schon, liebe Soso, leider kann ich es dir nicht leihen, da ich es selbst geliehen bekam …
herzliche Grüße
Ulli
LikeGefällt 1 Person
Ich habe mir soeben das eBook gekauft. Freufreu.
LikeGefällt 1 Person
bin gespannt!
LikeLike
Großartig inhaltsreich, dein Post, liebe Ulli,
einer Achterbahnfahet durch die Welt deiner Wintergedanken gleichkommend…TOLL!
Liebe Wintersonnengrüße vom Lu
LikeGefällt 2 Personen
Ach, du lieber Lu, das hast du wunderbar gespürt … Achterbahn passt, gerade steige ich aus, dann unter die Dusche und ab ins Bett … so ein heftiger Arbeitstag!
Danke für deins, tut gut
und liebe Grüsse
Ulli
LikeGefällt 1 Person
Vorhin begegneten mir zwei Sätze von Fernando Pessoa, die nach der Lektüre von „Winterland und Nachthaut“ zu notieren mich drängt: „Niemand ging jemals verloren. Alles ist Wahrheit und Weg.“
LikeGefällt 2 Personen
Auch die kleine blaue Frau hat erkannt: Nichts geht verloren und auch kein Niemand, fügst du hinzu, so schön!
Über alles ist Wahrheit muss ich noch nachdenken, aber Weg auf alle Fälle!
Liebe Maren, danke … ich fühle mich beschenkt
herzliche Grüsse
Ulli
LikeGefällt 2 Personen
Genau ! Ich überlege die ganze Zeit wo ich “ Nachthaut“ schon mal gelesen habe.. Pessoa!
Lange ists her, dass ich „den Hüter der Herden“ gelesen habe.. Zeit es mal wieder vorzuholen.
LikeGefällt 1 Person
Hat Pessoa auch über die Nachthaut geschrieben?
LikeLike
Wenn ich mich recht erinnere, kam das Wort Nachthaut in einem seiner Gedicht vor…
Kicher , bei wenn ich mich recht erinnere , hat das nicht immer Sam Hawkins und zu Winnetou gesagt ?wahrscheinlich dachte ich bei Nachthaut gerade an „Indianer“ Geschichten.. mein Gehirn macht manchmal zu meiner Belustigung solche Verbindungen.. oder mache ich die und das Gehirn ist eine Ausrede.. ?!
„Nachthaut“ würde auch zu Cambra Skade passen..
Ulli, ich dachtedas Wort kommt bei Pessoa vor, aber beweisen kann ich es nicht.
Gruss S.
LikeGefällt 1 Person
Liebe Susann, ach wie schön, du kennst auch Cambra Skade! Das freut mich jetzt sehr, wir haben eine gute Verbindung!
Diese Nachthaut … ja, die lässt sinnieren.
herzliche Grüsse
Ulli
LikeLike
„Die Moderne weiss wenig über Verzicht… “ danke für diesen Satz und diese Gedanken. Damit beschäftige ich mich gerade.. mit ihr zu tanzen ist ein schönes Bild.. meine Tanzschuhe sind zur Zeit schwere klobige Stiefel , die nur einen ungelenken Hopser einer Art Trollpolka zulassen.. aber gerade sitze ich in der warmen Wohnung und kann barfuss ein paar „Tanzschritte“ wagen. Warum nicht ? Das ein oder andere weglassen.. nicht beachten.. ich werd schon nix verpassen…*aushalten*, das es schwer sein kann.
LikeGefällt 1 Person
Zunächst einmal Herzlich Willkommen in meinem Cafè! Zum anderen herzlichen Dank für deinen wunderschönen Kommentar, die Trollpolka gefällt mir sehr, ich sehe es vor mir! Ja, der Tanz mit allem, auch mit dem, was manchmal schier unaushaltsam erscheint …
herzliche Grüsse
Ulli
LikeLike