blaue Stunde -13- die Nomadin und die Strassenbahn

strassenbahn 2ab

Lediglich im Winter ist sie seßhaft, die Nomadin. Wenn der Schnee kommt, braucht sie ein solides Dach und  schützende Wände. Wenn … Stürme und Frost kommen immer. Auf sie kann sie sich verlassen. Zeit für die Nomadin am Feuer zu sitzen, dem Innen zu lauschen, der Behaglichkeit zu frönen.

Doch jetzt, in den Monaten der frostfreien Nächte. der warmen bis heißen Tage wollen die Füsse laufen, will die Nase den Tag und die Nacht riechen. Unverblümt. Ein Zelt ist Haus genug. Genug ist auch ohne Wen. Es reicht, wenn sie, mit sich im Arm, unter der Sternendecke liegt, unter ihr ein Moosbett. Ein Körnchen vom Ganzen, ein Facettchen.

Nicht, dass sie plötzlich den „Chens, Les und Leins“ frönen würde. Das nicht. Es geht um den Unterschied vom Korn zum Körnchen. Von einer Sicht aus einer Linse zum dreitausendteiligen Facettenauge einer Libelle. Man stelle sich das vor!

0133 23.08.14 sichtweisen

Dreitausend Facettchen. Kaleidoskopbilder. Eine winzige Bewegung, ein kleines Schütteln oder Verrutschen, ein neues Bild.

Leben in Scherben. Scherben zu Mosaik. Mosaik mit einem Verrutschtem. Einem, der den Blick hält, ihn weitet, der beginnt zu kreiseln, am Verrutschtem entlang. Eine neue Geschichte oder wenigstens eine andere. Allein, der Standort ist geblieben.

Es wechselt. Irgendetwas wechselt immer. Muss es tun. Etwas muss verrutschen, sich verschieben, unscharf werden, brechen. Sonst rutscht er ab, der Blick, stürzt ins Leer, ohne Geschichte, weder eine neue, noch eine andere.

Sprung

Eine Straßenbahn

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Der Platz direkt hinter dem Straßenbahnfahrer. Kurbeln, bimmeln, gleiten, manchmal auch ein Ruckeln. Escalator over the hill, eine Seilbahn zum Gipfel, eine Straßenbahn ins Weit hinein. Ein Gleiten.

Erinnerung

Männer in tadellosen Anzügen, mit tadellos geputzten Schuhen, tadellos rasiert, mit tadellosen Aktenmappen, stehen an der geöffneten Türe, das Ziel fest im starren Auge. Ein Gleiten. Kurbeln, bimmeln, ruckeln. Aussteigen. Frauen im tadellosem Kostüm, mit tadellosem Make-up, tadellosen Stöckelschuhen und tadellosen  Aktenmappen steigen ein, das Ziel im starren Auge. Nächster Halt. Es wexelt sich. Männlich, weiblich, manchmal auch kindlich, auf alle Fälle ziemlich kindisch. Die Starre. Endlosschleife.

Stopp

Keine Kurbel, keine Bimmel, kein Ruckeln.

Der Atem hält an.

Etwas passiert. Es wird passieren. Etwas.

Die eine Sekunde … ein Auto explodiert. Dann brennt es aus. Ein Saxophon schreit. Tadellose Menschen verlieren ihre tadellosen Minen. Und auch mal einen Schuh. Beim rennen. Masken zerfallen in aufgerissene Augen und Münder ohne Schrei. Angst macht nackt.

Pause

Blitzschnelles Aufräumen. Kurbeln, bimmeln, kurzes ruckeln. Dann gleiten. Kostümröcke werden glatt gestrichen, Haare an den Kopf gelegt. Ohren und Münder schliessen sich, der aufgerissene Blick findet seine Starre wieder. Er hat nichts gesehen.

Ende …

Pause

ist nie ein Ende.

Der Faden hängt nicht lose im Raum. Es ist nur eine Facette verrutscht.

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Eine Geschichte über die Faszination von Facettenaugen und einem Straßentheaterstück, gesehen in den Neunzehnhundertneunziger Jahren in Amsterdam. Die Erinnerung kam plötzlich, so plötzlich wie damals die Straßenbahn und alles andere und genauso plötzlich war es auch wieder vorbei. Unvergessen.

17 Gedanken zu „blaue Stunde -13- die Nomadin und die Strassenbahn

  1. es ist wie tram fahren. und den geräuschen lauschen. gesprächen. fitzelchen. da ein wenig. dort ein wenig. ich habe deinen artikel vorhin schon gelesen (vor der mail) und mir überlegt, was ich auf so eine dichte auslege-ordnung schreiben kann. so vieles sprichst du an. es ist wie ein grosses wandbild aus vielerlei fäden gewoben. ich schaue hin. da und da. dann dort. und nehme wahr. fürwahr. deine bilder kommen bei mir an. ich fahre mit deiner bahn mit …
    danke fürs teilen!

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    • danke für deinen feinen kommentar, liebe Soso. wenn es ankommt, wie Tram fahren, dann ist alles erreicht 😉 Ich kann nicht erwarten, und tue es auch nicht, dass all mein Erleben und Erinnern dahinter erfasst werden kann. Kann ich es? 😉

      herzliche Grüsse zur guten Nacht
      Ulli

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  2. Verdammt, Ulli …

    „Leben in Scherben. Scherben zu Mosaik. Mosaik mit einem Verrutschtem. Einem, der den Blick hält, ihn weitet, beginnt zu kreiseln, am Verrutschtem entlang. Eine neue Geschichte oder wenigstens eine andere. Allein, der Standort ist geblieben.“

    Besser geht nicht. Besser geht einfach nicht.

    Viele Grüße & weiterhin sichere Straßen, Fritsch.

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  3. Pingback: Miniatur aus flüchtigem Lesen und weiterem Gespinne |

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  5. Die letzten Töne klingen gerade aus und ich lasse die rasant laufenden Worte, vielleicht habe ich auch zu schnell gelesen, sacken. Ein spannendes Gebilde aus Zeit, Wort, Bild und Ton.
    Ich freue mich, dass ich der Spinner hierher gefolgt bin.

    Dir einen schönen Tag
    San

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  7. das Foto ist klasse (die Einbettung in die Geschichte auch). Mir scheint, dass die Brücke vibriert, weil die Tram rüberfährt. Und außerdem verschieben sich die Pfeiler durch die Geschwindigkeit. Von der Libelle hat es vielleicht weniger, weil das Technische bestehen bleibt. Aber die Analogie – dass jeder Moment dreitausendfach zusammengesetzt ist und sich alles bei jeder Bewegung, in Sekundenbruchteilen verschiebt, wie die Bilder im Kalaidoskop, ist inspirierend.

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    • Das freut mich zu lesen, liebe Gerda! Ich habe vorhin auch sofort wieder Lust bekommen dahingehend wieder einmal ein Bild zu gestalten. Vielleicht lasse ich nämlich gerade jetzt alle Arbeit Arbeit sein und verlustiere mich mal mit der Kamera und später mit meinen Bildprogrammen, das könnte mir neuen Schwung für alle Todos geben 🙂

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