Dreiviertel

kleene abcdefgh

Es ist ein heisser Junitag, ich sitze im Schatten, der Sommer ist da, und doch war der Sommer auch schon vorher da. So frage ich mich, wann für mich der Sommer beginnt, was seine Attribute sind, jenseits von allen Festlegungen und Kalendern …

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Sommer ist vor allen Dingen Fülle für mich. Kraft und Energie, Lust und Leidenschaft, Leichtigkeit und Eiscreme, Badesee und kühlende Bäche, ist Tanzschritt, der Drang die Stube zu verlassen, ist Verbundenheit mit dem Mädchen in mir, ist Kräuter für den Winter sammeln, Farben auch und …

001 sommer

Fülle beginnt für mich im Mai, wenn Wiesen satt und grün, bunt und leuchtend erscheinen, wenn die Obstbäume blühen, wenn ich am Mittag den Schatten aufsuche, am Abend am Feuer sitze, wenn Lerchen- und Amselgesang mich betören, wenn ich barfuss übers Land streife und meine nackten Beine vom Wind umspielen lasse …

 

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Und so, wie im Mai für mich der Sommer beginnt, werden um den ersten Februar herum die ersten Frühlingsgefühle in mir wach. Immer dann, wenn das Licht spür- und fühlbar zugenommen hat, das Spriessen beginnt, Christrosen und Schneeglöckchen, Märzenbecher, wilde Krokusse und Narzissen die Bergwiesen schmücken, die Pulsatilla sich aus ihrem Flaumkleid dreht, oft noch inmitten von schmelzendem Schnee. Dann lassen mich die Erinnerungen an erste Frühlingskräuter durch Wiesen und Wälder streifen, und Worte, wie knackig und frisch, kehren zu mir zurück.

031 Tanz des Erwachens

Erste Gedanken an den Herbst hege ich im August, wenn ich die ersten gelben Blätter an den Bäumen hängen sehe, Getreidefelder abgeerntet werden, Klaräpfel, Pflaumen und Mirabellen im Obstkorb liegen, wenn die Blaubeeren nur noch welkendes Grün tragen, wenn ich am Morgen die Wiesen nass vom Morgentau unter den Füssen spüre und die ersten Morgennebel mich frösteln lassen.

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Und ist es dann erst einmal November und fällt das letzte Bunt auf braune Erde, sind die Gärten abgeerntet und die Vögel gen Süden geflogen, dann gedenke ich der Seelen, die vor Jetzt waren, zünde Kerzen an, trinke Sommerblütentee und begrüsse den Winter, der mich den Ahnen näher kommen lässt und versinke in weiß-grau-schwarzen Tönen.

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Mittsommer heisst für mich in der Mitte des Sommers angekommen zu sein,

20 27.06.

ganz so, wie ich mich mitten im Winter wähne, wenn die Sonne ihren tiefsten Stand erreicht hat.

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Und was ist nun mit meinem eigenen Leben? Stehe und laufe ich noch mitten drin oder ist nun der Anfang vom allmählichen Ende? Auch wenn mich Tod in jedem Moment erwischen kann, ist es doch eine Frage. Eine Frage ans eigene Gespür, wieder jenseits aller Festlegungen und Allgemeinplätzen.

Schaue ich in den Spiegel, dann muss ich die Vertiefungen und Neugeburten meiner Falten akzeptieren (lernen), auch die neue/alte Haut, die sich an manchen Stellen nicht mehr prall und satt um meine Knochen schließt. Und gleichzeitig freue ich mich an meiner genaueren Wahrnehmung, wenn ich die Berge nicht mehr im Stechschritt, sondern im Schlendergang erklimme, über den Raum von Sehen und Spüren, der mir in jungen Jahren versperrt war. Wenn ich während bevorstehender Arbeitsphasen früher ins Bett gehe, um den Aufgaben und Herausforderungen gewachsen zu sein, dann lacht mir aus der Ferne schon die Alte, die ich noch werde, zu. Noch sind wir nicht miteinander verschmolzen, noch gehen wir uns entgegen. Neugierig betrachte ich ihr braunes Runzelgesicht.

089a 20.06.14 kleene und alte

Und plötzlich lache ich laut. Weil es Platz in mir gibt und weiten Raum, weil ich Fragen, die mich einst quälten, nicht mehr in mir bewegen muss. Ich muss mich nicht mehr fragen wer ich bin, was ich werden will und wofür ich auf diesen blauen Planeten gekommen bin: ich bin die, die ich immer schon war und sein werde, ich tue das, was ich kann und freue mich an dem, was andere können und ich nicht. Ich will keine Andere mehr werden und nicht anders. Ich weiß, was ich noch lernen möchte, was ich noch sehen und erleben will, und ja, ich habe noch viele Pläne. Und … ich habe Frieden mit mir geschlossen, bin dankbar für das, was war und ist.

Wenn ich nun nach diesen Zeilen in mich hinein horche und gleichzeitig die gelebten Jahre zähle, dann bin ich im Dreiviertel angekommen. Noch habe ich viele Träume, noch hat sich mein Säckchen nicht geleert. Ob ich nun gesund bleibe ist eine Verantwortung, die es zunehmend zu tragen und zu leben gilt, sollte es mich dann doch erwischen, dann habe ich eine neue Lernaufgabe. So einfach ist das!

Heute Morgen dachte ich, dass im Moment der Geburt das Sterben beginnt. Aber das ist eine falsche Formulierung, die dem Drang nach Wachstum und Reife, die jedem Lebewesen innewohnt, widerspricht. Leben und Tod sind Geschwister, sie gehen solange nebeneinander her, wie es eben dauert. Bei manchen kurz, bei manchen lang. Die Frage nach dem warum findet keine Antwort und darum bleiben Leben und Tod Mysterien, um die es sich wunderbar kreiseln lässt

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16 Gedanken zu „Dreiviertel

  1. Deinem letzten Satz möchte ich unbedingt zustimmen. Die ewige Frage nach dem „Warum“ hat mir lange Zeit das „Wunder“ meiner Existenz vergällt. Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens ist das gelebte Leben selbst.

    Liebe Grüße

    Achim

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    • „Die Antwort auf die Frage nach dem Sinn des Lebens ist das gelebte Leben selbst.“, yes indeed, lieber Achim 🙂
      vielleicht muss mensch ein gewisses Alter erreichen, um diese Erkenntnis zu erreichen- die einen früher, die anderen später, gelle … ich mag es ja älter geworden zu sein, trotz mancher melancholischer Stunden, aber all das gehört eben zu dem bunten Blumenstrauss Leben dazu …

      herzliche RegenBergGrüsse
      Ulli

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  2. Den Raum vom Sehen & Spüren erleben … das ist der Blues, das ist der Weg, den wir gehen & das Bewusstsein. Und ich höre Dir zu, ich spüre dieses Blues & fühle den Dreiviertel-Rhythmus. Bleibe fast sprachlos & glücklich zurück. Vielen Dank, liebe Ulli!

    Viele Grüße & weiterhin sichere Straßen, Fritsch.

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    • und irgendwann, lieber Florian, tanzen wir mal gemeinsam durch Berlins nächtliche Strassen, das wünsche ich mir immer noch und könnte in diesem September/Oktober Wirklichkeit werden … bislang sieht es gut aus, so du dann überhaupt in der Stadt bist …

      ich fühle mich wirklich geehrt, ob deiner Sprachlosigkeit und deines Glücklichseins, wenn das meine Bilder und Worte bei einem Menschen auslösen, dann macht mich das umgekehrt ebenfalls sehr froh- danke dir

      herzliche Grüsse vom Regenberg
      Ulli

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  3. Ich denke, Ulli, das Sterben beginnt zu keiner Zeit, selbst bei Krankheit nicht. Denn das Wesen lebt und atmet und selbst bei größter Krankheit hängt das menschliche Wesen an der Welt, an dem Neuen und Altem. Wenn die Neugier und die Lust am Leben, der Haß, der Tratsch aufhören, dann ist der Mensch tod.
    Und dann stirbt er oder sie…… lg Susanne

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    • Ich hoffe doch, liebe Susanne, dass der Hass und der Tratsch auch aufhören, wenn ich noch mitten im Leben oder im Dreiviertel angekommen bin, denn dies sind ja innere Haltungen, die man entwickeln kann- auch sehe ich das Sterben etwas anders, wir wissen, dass auf der biologischen Seite (dazu muss man nicht unweigerlich eine todbringende Krankheit in sich tragen), dass ab irgendeinem Zeitpunkt das Wachstum aufhört, zwar weiss man heute auch, dass sich Zellen viel länger neu bilden, als man noch vor 10/20 Jahren annahm, aber irgendwann lassen Sinnesorgane,Körperkräfte etc. nach,.Die chinesische medizin spricht vom Qui = der Lebenskraft, die verebbt. Für mich ist das Symbol hierfür das gelbe Blatt am Baum, das den bevorstehenden Sterbeprozess ankündigt … manche Menschen wissen ganz genau, wann ihr Zeitpunkt gekommen ist, ein schönes Beispiel hierfür ist der Film „Antonias Welt“.Indem ich Tod als ständigen Begleiter des Lebens wahrnehme und mir seiner bewusst bin und bleibe, umso lebendiger bin ich …

      aber ich stimme dir auch zu, der Überlebenswille ist grösser, als wir ahnen und die Neugierde und die Lust am Leben sind wesentliche Faktoren, um gesund alt werden zu können und in Frieden und in Bewusstheit zu gehen …

      herzliche Abendgrüsse und herzlichen Dank für deins
      Ulli

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      • Guten Morgen, liebe Ulli,

        ich möchte den Tod nicht „verleugnen“ oder „wegdenken“ aber ich möchte mich auch nicht von ihm beherrschen lassen. Die Kräfte des Körpers lassen nach – das ist keine Frage. Ob nun mit oder ohne Krankheit. Ich habe allerdings festgestellt, egal wie sehr mich meine Kräfte verlassen, egal wie krank ich bin, egal wieviele Schmerzen ich habe, es gibt immer etwas, womit ich mich und meine Gedankenwelt anregen kann. So kann ich das Leben bis zur letzten Neige leben.
        Sicher – soziale Kontakte heute zu pflegen, auch bei Krankheit und Bewegungslosigkeit, ist viel einfacher durch die neuen Medien. Wir haben großes Glück, dass die Technik so weit fortgeschritten ist.
        Ich kenne jedoch auch viele Menschen, deren einziger Antrieb Tratsch, Haß, Neid und die Wut ist. Gäbe es sie nicht, dann gäbe es keine Kriege. Ich versuche mich von diesen Menschen und ihrer negativen Energie fern zu halten. Sie kosten mehr Kraft als mein ganzes Studium.

        Einen schönen Tag wünscht dir Susanne

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      • vom Tod beherrschen lassen,will ich mich auch nicht, das klingt mir auch zu sehr nach Angst vor ihm, aber ich will ihn eben auch nicht verleugnen, entwickel seit Jahren eine Haltung ihm gegenüber und stelle eben mehr Freude am Leben fest …
        bei allem stimme ich dir zu, wir leben schon in einer besonderen, wenn auch nicht wirklich einfachen Zeit, aber wann hat es die denn je gegeben?
        Im Buddhismus spricht man ja von den drei negativen Geisteshaltungen, dazu gehören der Hass, die Gier und der Neid, wenn ich näher hinschaue, kann ich diesen dreien noch jeweils Unterkategorien hinzufügen, Neid = Eifersucht, Mobbing, üble Nachrede, Hass bringt Wut und Kriege mit sich, die Gier schert sich nicht um das Wohl der anderen, nur ums eigene, hat Gnadenlosigkeit im Gepäck und ein enges Herz- ich bin nicht frei von diesen Geisteshaltungen, am ehesten noch vom Hass, den ich sehr selten spüre, wenn ich durchaus Zorn und Ärger kenne … ich bin für meine Geisteshaltung verantwortlich und je ehrlicher ich zu mir selbst bin und an ihnen „arbeite“, umso mehr wächst mein Mitgefühl mit den Mneschen, die sich von diesen gefühlen reiten lassen, aber deswegen muss ich nicht mit ihnen kuscheln … ich finde es immer wichtig zuerst bei mir selbst zu beginnen, bevor ich den Finger auf andere lege …

        danke für diese kleine Debatte, die mich freut
        herzliche Grüsse Ulli

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  4. Durch die Zeit gehen und sie annehmen, denke ich. Das Leben annehmen und auf die jeweiligen Herausforderungen zu reagieren, oder eher noch, wie ich es gerne sage, zu antworten, kann schwer genug sein. Aber mit jedem Schritt, den wir machen, mit allen Entscheidungen, die wir treffen, tun wir genau das.
    Das Sterben mitten im Leben scheint eben auch diese Antwort(en) von uns zu verlangen. Wie stelle ich mich zu meiner Endlichkeit, zu meinem Loslassen und meinen Schmerzen? Wie gestalte ich diesen durchaus angstbesetzten Prozess? Und wann beginne ich damit?

    Ich danke Dir für Deine Gedanken, liebe Ulli.
    Herzlich, mb

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    • liebe mb, ich denke, dass jede Herausforderung, die ich angenommen habe,neben aller Schwere, doch immer auch ein Lernen war und ist und bleibt, etwas, dass mich stärkt. Am Anfang des Weges ist es oft ziemlich schwer, aber je älter ich werde und umso mehr Herausforderungen ich angenommen und gemeistert habe, umso weniger schwer war es bei der nächsten … Werkzeug für Werkzeug kam in den Erfahrungsrucksack und je nach Bedarf kann ich nun das eine oder das andere wählen dies ist es, was mich selbst manchmal reich (beschenkt) fühlen lässt.

      In der Ausbildung zur Visonssucheleiterin ging es auch um die Loslass- und Sterbeprozesse, inmitten des Lebens, es war wie Vorübungen für das, was noch kommt und auch dafür bin ich dankbar-

      hab herzlichen Dank für deins, ich freue mich gerade über diesen Austausch hier SEHR
      liebe Grüsse zum Abend
      Ulli

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  5. ja, genau … so ist es. so wird es sein … das leben, das sterben … so und anders. immer wieder sich wandelnd, und immer wieder aus verschiedenen blickwinkeln erfahrbar …
    danke für diesen feinen text!

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  6. Mir zeigen Vögel den Wechsel der Jahreszeiten an. Der erste Storch, die ersten Schwalben. Wenn ich dann den Gesang des Pirols zum ersten Mal höre, weiß ich, alles ist in Ordnung, Sommer ist da. Herbst ist, wenn die Sommervögel abreisen, Winter, wenn die Wintergäste aus dem Norden angekommen sind. Der Lauf beginnt auf ein Neues.
    Liebe Grüsse – Uta

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    • Ich merke gerade, dass Winter für mich eine Zeit der Lebendigkeit und großen Fülle ist, mit Tausenden von Gänsen die hier überwintern, Säger, Seeadler, …

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      • liebe Uta, Winter muss nicht unbedingt leer sein … da hast du Recht- danke für deine Ergänzungen,du liebe Tier- und Vogelfrau
        herzliche Grüsse Ulli

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  7. Pingback: Der Tod – Zeichnung von Susanne Haun | Susanne Haun

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