Blaue Stunde 6. Teil – über Abwesenheit und Verbundenheit

Manche, so sagt man, heiraten ihre Mutter oder ihren Vater. Sie… hätte niemals ihren Vater heiraten können, nur seine Abwesenheit und die der Mutter gleich dazu. Ihre Abwesenheit bei gleichzeitiger Anwesenheit.
So… hatte auch sie gelernt sich zu entziehen. Sich selbst zu genügen. Scheinbar.

Manchmal noch weinte das Mädchen in der erwachsenen Frau.
Es hatte Solche gegeben, die das Mädchen in ihren Augen gelesen hatten. Ein so tiefes Schauen aber war ihr unangenehm. Ihre Einsamkeit gehörte ihr allein. Ihre Not auch.
Schlimm genug, wenn sie sich manchmal Bahn brach. Die Not. Wenn die Kapsel brach. Unter Tränen. Mit roter Wut. Die Not, die den Verlust und die Leere wieder und wieder inszenierte.

Wer nicht tief schaute, bemerkte nichts. Sah, was sie wollte, das es gesehen wurde. Sie hatte die Kunst des Modellierens gelernt. War sie eine Mogelpackung geworden?

Sie saß in der blauen Dämmerung auf der Bank vor dem Haus. Die Beine und Füße zum Schneidersitz gekreuzt, den Blick auf Ferne gestellt. Die perfekte Meditationshaltung. Äußerlich. Innerlich weinte das Mädchen. Die erwachsene Frau war müde.
Noch nie hatte sie „richtig“ auf Stühlen, Bänken oder Sesseln sitzen können.
„Du… bist doch nicht von hier!“, tönte noch manchmal Mutters Kommentar.
„Nein, ich bin nicht von hier. Ich habe mich verirrt. Falsche Familie, falscher Zeitpunkt, falscher Ort…“

Sie hatte sich selbst dabei zugesehen, wie sie zunehmend abwesend wurde. Da, aber nicht mehr verbunden. Auch nicht mit ihm. Sie nannte es ihre Antwort. Aber vielleicht nahm sich nur das Raum, was sie schon als Kleine eingeatmet hatte, dem sie zeitlebens, wenigstens bis hierher, ein Gesicht zu bekommen verwehrt hatte. Ihr Trotz zu Abwesenheit gewandelt? Das rebellische Mädchen zu einer traurigen Frau?

Im Schweigen wohnte das Mädchen, die Frau, die Wut, die Traurigkeit Seite an Seite.

Ihre Abwesenheit schien seine zu verwandeln. Aber jetzt wusste sie nicht, ob sie es noch wollte. Nach all der Vergeblichkeit. Sie mochte keine Spielchen, wünschte sich Aufrichtigkeit und spielte und behütete ihre Geheimnisse wohl.

Einst hatte sie sich ihn so einfach vorgestellt. Hatte ihn wohl tausend Mal im Geist gemalt, entworfen, verworfen, wieder neu modelliert… ihren Adonis, der kein Gesicht annehmen wollte. Seine Züge, immer so flüchtig! Bis er vor ihr gestanden hatte. Sofort hatte sie ihn erkannt, seine Augen, seine markanten Züge, seine Falten, seine Statur. Der Anfang für die Erfindung eines Ehemannes war getan. Wer war er wirklich? Wer sie? Jetzt…

Jahrelang hatte sie an der Verbundenheit gestrickt. Jetzt hielt sie ein löchriges Etwas in den Händen, von einem Faden zusammengehalten. Löcher, in die sie hinein gefallen war. Löcher aus denen sie wieder heraus gekrabbelt war. Wer oder was hielt sie? Wer oder was trug sie?

Der Blick kam aus der Ferne zurück. Landete auf ihren, ruhig im Schoß liegenden Händen. Das Mädchen hatte aufgehört zu weinen. Es schien als lausche es auf etwas. Auch die Frau lauschte.

„Liebe“, flüsterte es. Ein zartes Lächeln schlich über ihr Gesicht. Sie schenkte sich ein Spiegelbild. Versöhnung stand darüber geschrieben.

Später wird sie diese zwei Worte aufschreiben und in ihren Zettelkasten legen. Zur Erinnerung. Zur Vermeidung von grauschleierigen Vorhängen der Vergangenheit über dem Klar des Jetzt. Noch etwas wird sie aufschreiben:
„Abwesenheit ist nur eine Facette.“

Liebevoll nahm die Frau das Mädchen in den Arm und flüsterte Verbundenheit in das dürstende Ohr.
Nacht hatte sich über den Abend gelegt. Ein kühler Wind strich über ihre immer noch gekreuzten Beine. Sie lächelte erneut, erhob sich und ging zurück ins Haus. Die Tür stand auf.

21 Gedanken zu „Blaue Stunde 6. Teil – über Abwesenheit und Verbundenheit

  1. Leider kann ich mich darin nicht hineinversetzen, da ich eigentlich glücklich und zufrieden bin und solche Situationen so gut wie gar nicht kenne.
    Sollte ich etwas verpaßt oder mißverstanden haben?

    Liebe Grüße zu dir und einen wundervollen Tag wünscht Mathilda 🙂

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    • Liebe Mathilda, wow… noch ein glücklicher Mensch hier auf meiner Seite! Ob du etwas verpasst hast? Ich glaube nicht. Diese Zustände von Abwesenheit muss man nicht unbedingt haben 😉 aber ob du etwas missverstanden hast, das kann ich nicht beurteilen, weil ich nicht weiß, wie du diesen Text wirklich verstanden hast.

      ich danke dir sehr für deins und wünsche dir noch einen wunderbaren Tag
      Frau Blau

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  2. Das blaue Bild am Ende deines Textes gefällt mir: klar und einfach und irgendwie auch rätselhaft. Zu deinem Text kann ich weniger sagen, denn Versöhnung ist kein Thema für mich. Vielleicht ist`s mein Alter, habe ich Glück gehabt oder mache ich mir etwas vor, aber ich hadere selten und irgendwie komme ich nicht in Situationen, in denen Versöhnung anläge. Vielleicht spielt Versöhnung in der Männerwelt nicht solch eine Rolle. Ich höre oft mit Staunen Frauen von Verletzungen, Versöhnungen und ähnlichem reden, in meiner Welt war und ist das eigentlich kein Thema.

    Mit lieben Grüßen aus Cley next the Sea
    Klausbernd, der dir einen feinen Tag wünscht

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    • da staune ich einerseits und andererseits nenne ich dich somit einen glücklichen Menschen, lieber Klausbernd!
      Verbundenheit… diese bezieht sich nicht allein auf die Verbundenheit mit Menschen, auch mit meiner Umwelt und dem was ist. Ich kenne beides, sowohl das Gefühl abwesend zu sein, nicht dazu zu gehören, sowie die Verbundenheit. Und Freund Hader ist mir wohl bekannt, auch wenn er in den letzten Jahren geschrumpft ist.
      Ich weiß nicht wirklich, ob dies ein weibliches Thema ist. Kenne ich doch auch viele Männer, die mir nicht verbunden scheinen, am allerwenigsten mit sich selbst. Sich selbst zu spüren scheint doch in dieser modernen Welt ein ziemlich großes Thema geworden zu sein, wie ich in meiner Praxis erleben durfte.
      Versöhnung beginnt, meiner Meinung nach, immer bei sich selbst/ mit sich selbst. Wenn ich mich mit dem was war und ist, was geschah und geschieht nicht versöhne, dann bleiben Hader und Kampf, anstelle von Frieden und Verbundenheit.

      tausend Dank für deinen Kommentar und herzliche Grüße an euch Vier am Meer aus dem Walde, wo es heute schwülwarm ist und ich den Kochlöffel schwinge. gerade eben habe ich Pause. Yes 🙂
      Frau Blau
      P.S. das Bild trägt den Titel verbunden und ist eine Tuschezeichnung von mir… schön, wenn es gefällt… rätselhaft gefällt MIR!

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      • Ein ganz klares und zustimmendes JA zu diesem Text. Ich kann deinem Blogeintrag, so wie diesem Kommentar voll zustimmen. ich kenne ähnliche Situationen.

        Liebe Grüße, Szintilla

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      • Liebe Frau Blau,

        mit „Verbundenheit“ hast du ein spannendes Thema aufgebracht, ja du hast mich erst darauf aufmerksam gemacht. Wenn ich meine Entwicklung recht verstehe, benötigte ich einige Zeit, um Verbundenheit zu spüren und hingabefähig zu werden, was für mich eng miteinander zusammenhängt. Man muss das lernen und lernt es meist durch Partner. Mit einem gewissen Alter hat man es dann gelernt. Das ist wahrscheinlich auch einer der Gründe, warum das Leben im Alter einfacher wird. Mit sich selbst verbunden zu sein, dazu gehört eine gewissen Erfahrung, die meine Generation (klassischer 68er) mit Workshops und Therapiegruppen abzukürzen versuchte, was auch einigen gelang.
        Viele Menschen, beobachte ich, leben derart entfremdet von sich und ihrer Umwelt, dass sie eigentlich eine Therapie gebrauchen könnten. Ich sag das nun nicht, da ich u.a. Psychologe bin (ich habe mich auf andere Felder spezialisiert: Sprachpsychologie und Wahrnehmung), sondern aus eigener Erfahrung. Ich glaube, es war von 20-23, dass ich eine Psychoanalyse genoss, die nicht nur eine willkommene Nachsozialisation war, sondern mich auch mit mir verband. Und als Mann kann ich auch meinen Freundinnen und Geliebten dankbar sein, von denen ich lernte, mit mir verbunden und zugleich hingebungsvoll zu leben. Gerade was Verbundenheit betrifft, lernen wir doch alle das Meiste durch unsere unterschiedlichen Liebespartner.
        Auf der anderen Seite habe ich jedoch auch beobachten können, wer Verbundenheit mit sich und seiner Umwelt nicht bis zu einem bestimmten Alter zu lieben gelernt hat, der oder die lernt es dann nur noch unter großen Mühen.
        Ich fühle so, wie es auch Mathilda ausdrückt, dass ich glücklich und zufrieden bin und frage mich, ob es nicht auch eine Lust am Negativen ist, an dem zu leiden, was man meint, nicht zu haben. Alle, die wir hier bloggen, sind doch äußerst privilegiert, und schon allein das sollte Grund genug sein, sich zu freuen.

        So, jetzt muss meinen Heizungsmonteuren einen Tee kochen. und dann die Tomaten gießen und die Äpfel von der Wiese aufsammeln.
        Diese Diskussion hier finde ich sehr spannend. Danke, dass du sie angeregt hast.

        Einen wunderschönen, zufriedenen Tag wünscht dir, liebe Frau Blau, und allen anderen
        Klausbernd aus sunny Norfolk 🙂
        Die Buchfeen Siri & Selma rufen aus dem Garten „Liiiiiebe Grüße!“ 🙂 🙂

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        • Lieber Klausbernd,

          das freut mich jetzt arg, dass du doch noch etwas dazu geschrieben hast. Gerade wollte ich dir nämlich eine Mail senden, weil ich mir, ganz ehrlich, nicht vorstellen konnte, dass du wirklich und niemals dieses Gefühl kennengelernt hättest!
          Dieser Text entstand auf dem Hintergrund des „weißen Bandes“ (Film, den ich hier besprochen habe) und dem Buch von Siri Hustvedt „Was ich liebte“, das ich gerade, nach neun Jahren, ein zweites Mal lese und natürlich meinem Eigenen.
          Das Gewicht liegt auf der Verbundenheit bzw. dem Gefühl des Abgetrenntseins. Manche Menschen sind durch ihre Sozialisation so tief traumatisiert, dass sie vielleicht niemals an dem Punkt der Verbundenheit ankommen, andere spüren sie zeitweise, fallen dann aber wieder hinaus (hier durch das Bild des „löchrigen Etwas“ dargestellt… durch die Löcher in die man fällt und, wenn alles gut geht, auch wieder hinaus krabbelt.
          Ich hatte das unwahrscheinliche Glück, dass ich in meinem Leben viele helfende Hände fand (frei nach C.G. Jung) und Liebhaber/Partner, die mich Hingabe und Verbundenheit „lehrten“. Aber ich fand es nicht nur durch sie, auch wenn sie einen Wesentlichen Anteil daran hatten. Ich fand es auch in der Natur, die zwar wild und nicht immer nur ungefährlich romatisch ist, die mich aber fühlen ließ, dass ich ein Teil von ihr bin. Manch spirituelle Erfahrung kommt hinzu. Manch Therapiestunde, manch Workshop… auch.
          Du hast natürlich Recht, man sollte sich frühzeitig auf den Weg machen sich selbst zu begegnen und sich mit dem, was war zu versöhnen, je älter der Mensch wird, umso schwieriger wird. Meine Lehrerin sagte aber auch, dass es eben Menschen gibt, die so tief traumatisiert sind, dass sie es nicht schaffen, dass wir als BegleiterInnen nur lindern können. Tatsächlich bezweifele ich manchen Ansatz, wie ihn zum Beispiel Bert Hellinger vertritt (den ich sowieso anzweifle), dass man nur seinem Vergewaltiger verzeihen müsse, dann werde schon wieder alles gut. Es gibt Geschichten, von denen ich, dem Himmel sei Dank, verschont geblieben wurde, die mir unverzeihbar scheinen. Viel wichtiger erscheint mir, dass man sich selbst mit sich und seiner Geschichte versöhnen muss/müsste. Denn tief ist die Scham und die Schuld mit der einst die unschuldigen Kinder beladen wurden. Manche fallen in lebenslange Apathie, Depressionen, oder klinken sich grad ganz aus (Schizophrenie u.ä.) andere rebellieren, wieder andere werden gewalttätig und…
          Zufriedenheit zu entwickeln ist dann wohl der nächste Schritt. Ich kann heute sagen, dass ich mit dem zufrieden bin, was ich bin und was ich habe, es war ein langer Weg! Trotzdem schützt es mich nicht davor dann und wann wieder rückfällig zu werden, nur habe ich mittlerweile so viele Werkzeuge gesammelt, dass diese Zustände nicht mehr lange anhalten.

          Tausend Dank für deinen erneuten Kommentar
          herzlich grüßt dich und deine drei Damen Frau Blau aus dem blauen Walde

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  3. Mir gefällt dein Text sehr, liebe Frau Blau. Ein Satz hält (möglicherweise nur) für mich die Geschichte und das Thema aufs Feinste zusammen:
    „Nein, ich bin nicht von hier.“
    Vielleicht gehört zum Versöhnen, dem besonderen Wunsch nach Verbundenheit oder dem Versuch, sich selbst zu genügen, auch gerade diese Erfahrung. Vielleicht.
    Danke Dir, mb

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  4. Da kommen Erinnerungen beim Lesen. Denke an das Buch: Aussöhnung mit dem inneren Kind etc.. das ist mir heute ein sehr wichtiges Hilfsmittel. In Phasen, wo die Balance nicht stimmt, in sich spüren und im Kontakt mit dem inneren Kind wieder ins Gleichgewicht kommen.
    Noch ein weiteres Buch hast du mir hervorgeholt: Die Wolfsfrau! Und die Geschichte vom hässlichen Entlein, da geht es auch darum, das Gefühl zu haben, in der falschen Familie gelandet zu sein – so andersartig, wie man ist… Was fühlte ich mich verstanden… 🙂
    Dein Text gefält mir und dein Bild – sehr schön, zart und doch aussagestark! Und … es lässt RAUM!

    ..grüßt dich Monika herzlich

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    • danke dir sehr, liebe Monika und es freut mich, wenn es für dich so stimmig ist.
      Das hässliche Entlein… stimmt, das passt dazu. Die Wolfsfrau… darin lese ich immer mal wieder… und die Aussöhnung mit dem inneren Kind… ja, das hat mich auch mal eine Weile begleitet… da haben wir ja ne Menge Gemeinsamkeiten 😉

      herzliche Grüße
      Frau Blau

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  5. oh, jetzt wo ich endlich zum bloglesen komme, haben schon so viele schon fast alles geschrieben. da bleibt mir ein schlichtes dankeschön für diesen vielschichtigen text.
    herzlich, soso

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